Deutschland | Lateinamerika | Nummer 287 - Mai 1998

Die DDR und der Oberst Aureliano Buendía

Die Rezeption lateinamerikanischer Literatur in der DDR

Oberst Aureliano Buendía, der in García Márquez’ Hundert Jahre Einsamkeit drei Dutzend Hinterhalte und mehrere Erschießungskommandos überlebte, schaffte es erst nach mehreren Anläufen, die stabilen Grenzsicherungsanlagen der DDR, sprich die Zensurbehörden zu überwinden. So begriffen die ostdeutschen LeserInnen erst mit ziemlicher Verzögerung, daß ihr heute verschwundenes Land eine Art mitteleuropäisches Macondo war.

Hans Otto Dill

Früher hatten es die literarischen Helden der lateinamerikanischen AutorInnen sehr leicht, gewissermaßen visafrei in die DDR einzureisen. Ihre Werke waren weit früher und zahlreicher im Osten Deutschlands verbreitet als im Westen. Kommunistische und linke SchriftstellerInnen überstanden die Nazizeit im lateinamerikanischen Exil, lernten die Literaturen ihrer Gastländer schätzen, wurden in Thematik wie Schreibweise von den Latinos beeinflußt – so Anna Seghers, Ludwig Renn, Gustav Regler und Bodo Uhse in Mexiko oder Eduard Klein in Chile. Als sie sich nach Kriegsende nach Ostdeutschland begaben, animierten sie dort die Übersetzung vieler Latinos: von Amayo Amador bis zu Guimarães Rosa. Jorge Amado wurde in der DDR mehr wegen seiner sexuellen Freizügigkeit und seines Humors als wegen seiner politischen Überzeugungen zu einem Erfolgsautor, lange bevor man seinen Namen in der Bundesrepublik auch nur kannte.
Der Neuruppiner Lyriker Erich Arendt, der in der kolumbianischen Avantgarde um León de Greiff verkehrte, editierte und übertrug neben dem barocken Spanier Góngora die im deutschen Westen lange Zeit als unbekannte Dichter geltenden Pablo Neruda und Nicolás Guillén kongenial und auflagenstark ins Deutsche. Allerdings wurden entsprechend der kulturpolitischen Dogmen des Sozialistischen Realismus zumeist linke, kommunistische und gesellschaftskritische Autoren verlegt, die damals zwischen Rio Grande und Feuerland den Ton angaben. Dazu wurden verschiedene Handschriften wie die von Volodia Teitelboim, Alfredo Varela, José María Arguedas oder des frühen Roa Bastos gerechnet. Doch nach der „kopernikanischen Wende“ des Neuen Romans hatten es die, meist auf sprachliche, ästhetische und kulturelle Finessen statt auf politische Fundamentalismen konzipierten LateinamerikanerInnen in der DDR schwer, wogegen sie im Westen sehr schnell Fuß faßten. So kam es, daß García Márquez, anfangs mit seinen „realistischen“ Romanen, zum Beispiel Die böse Stunde nur im Osten bekannt und verlegt, mit Hundert Jahre Einsamkeit nur im Westen Übersetzer und Editoren fand. Der Oberst Aureliano Buendía, der 1967 das Licht der literarischen Welt erblickte, durfte somit erst 1975 mit westdeutscher Lizenz in die DDR einreisen. Darauf folgten verzögert, aber unaufhaltsam die Editionen von Carpentier, Vargas Llosa, Fuentes, Borges, Lezama Lima, Cortázar tutti quanti.
Allerdings: politische Subversion und Dissidenz waren verboten: bestimmte Werke von Vargas Llosa oder Fuentes oder gar von Cabrera Infante oder Reinaldo Arenas konnten höchstens illegal in die DDR gelangen. Dennoch bleibt insgesamt eine positive Bilanz der Rezeptionsgeschichte lateinamerikanischer Literatur im Osten Deutschlands. Zu dieser gehören auch die berühmten Kurzprosa-Anthologien aus lateinamerikanischen Ländern in der Sammlung Erkundungen des Verlages Volk und Welt und die teilweise erstmals in deutscher Sprache erfolgte Edition von Klassikern wie José Martí, Horacio Quiroga oder Ricardo Güiraldes im Verlag Rütten & Loening.

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