Die Dekadenz der Metropole
Armut und Verfall sind nicht zu verstecken
Historische Fotos der Stadt zeigen gern die glanzvollen Jahre zur Jahrhundertwende, als Buenos Aires sich tatsächlich noch weitgehend durch gute Lüfte auszeichnete und mit den Metropolen des Nordens, mit London, Paris und New York messen konnte. Zahlreiche Prunkbauten, die heute die großen Avenidas schmücken, sind damals entstanden. Sie sind Ausdruck der Macht und des Reichtums einer Agraroligarchie, die vom Fleisch- und Getreideexport lebte. Zwischen 1881 und 1891 wurde der Regierungssitz, die Casa Rosada, errichtet und man leistete sich ein Opernhaus nach Vorbild der Mailänder Skala. Ein großes Kulturereignis jagte das andere, die großstädtische Infrastruktur wurde ausgebaut. Bereits 1890 dehnte sich das nationale Eisenbahnnetz auf über 9.000 km aus und verband die Orte des Interior mit der Hauptstadt. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die elektrische Straßenbeleuchtung eingeführt und 1913 die erste U-Bahn-Linie eingeweiht.
Daß bereits die Zeiten des prosperierenden Agroexportmodells, die Jahre der vacas gordas, auch ihre Schattenseiten hatten, zeigen die Postkartenfotos selten. Die mit den großen Einwanderungswellen zwischen 1910 und 1930 kommenden ItalienerInnen, SpanierInnen, PolInnen, LibanesInnen und Deutschen hausten auf engstem Raum in conventillos, in Mietskasernen, unter miserablen hygienischen Bedingungen. Unweit der luxuriösen Wohnorte der Reichen und Mächtigen an der Plaza San Martín oder der Plaza de Mayo lebten die ImmigrantInnen mindestens zu sechst in einem Zimmer, im Hof spielten die Kinder, wurde Wäsche gewaschen und Tango gesungen.
Zerfall und Elend
im Conurbano
Schon 1913 hatte Buenos Aires über 1,5 Millionen EinwohnerInnen und konzentrierte 35 Prozent der Industrieproduktion auf sich. Den entscheidenden Wachstumsschub erlebte die Stadt jedoch in den 40er Jahren. Die importsubstituierende Industrialisierung zog immer mehr Menschen an. Die ArbeiterInnenvororte dehnten sich aus, mehr noch die villas miserias, die Armenviertel. “Villa Miseria tambien es Buenos Aires” hieß ein berühmt gewordenes Buch aus den 50er Jahren. Darin machte der Autor auf die Lebenssituation in diesen Armenvierteln aufmerksam, die sich langsam wie ein Gürtel um den Hauptstadtbezirk legten.
Die große Mehrheit der Stadtbevölkerung von Buenos Aires lebt heute in diesem Großstadtgürtel (Conurbano). Er gehört mit seinen 23 Kommunen zur Provinz Buenos Aires und beherbergt ca. 9 Millionen Menschen, das sind 30 Prozent der Gesamtbevölkerung Argentiniens. Nach wie vor ist hier mehr als die Hälfte der Industrieproduktion des Landes konzentriert. Seit Mitte der 70er Jahre ist sie jedoch insgesamt drastisch zurückgegangen. Damit stieg die Zahl der Arbeitslosen stark an und damit die Armut, so daß auch hier von einer “neuen Armut” gesprochen wird. Es ist die Gruppe der “Verarmten”, ehemals zur Mittelklasse zählenden, die in den letzten 15 Jahren am stärksten gewachsen ist. Über 600.000 Menschen haben aufgrund ihres niedrigen Einkommens nicht die Möglichkeit, eine Wohnung oder ein Stück Land zu mieten und sind daher zu illegalen Siedlungsformen gezwungen. 1,5 Millionen Menschen leben in zu kleinen oder schlecht ausgerüsteten Wohnungen. Lediglich 42 Prozent der Bevölkerung im Conurbano verfügen über einen Wasseranschluß und nur 25 Prozent sind an die Kanalisation angeschlossen. Die Qualität des Trinkwassers, von der die Mehrheit der armen BewohnerInnen des Conurbano Gebrauch machen muß, ist wegen der Industriekonzentration und fehlender Kanalisation extrem schlecht. Die Flüße werden seit Jahrzehnten bereits als Abwasserkanäle für die Industrieabwässer genutzt. 90 Prozent aller Industrieanlagen sind bisher nicht an eine Kläranlage angeschlossen. Offene Mülldeponien verschlimmern zusätzlich die Umweltsituation.
Im Hauptstadtbezirk stinkt’s
Lärm und Luftverschmutzung durch den wachsenden Autoverkehr, Unsicherheit durch Verkehrsunfälle und ungesicherte Baustellen und Überschwemmungen nach Regenfällen haben allerdings auch im privilegierten Hauptstadtbezirk die Lebensqualität sinken lassen. Obwohl der Hauptstadtbezirk nur 7,2 Prozent der Gesamtfläche des Großraumes von Buenos Aires ausmacht, leben in ihm fast ein Drittel der Bevölkerung. Doch die Kapitale wächst weiter in die Höhe. Trotz Bauverbot über eine bestimmte Geschoßanzahl hinaus, entstehen in verschiedenen Bezirken immer mehr Hochhäuser mit teilweise über 30 Stockwerken. Die Bauverwaltung ist so korrupt, daß eine wirkliche Kontrolle der Baubestimmungen nicht gewährleistet ist. In manchen Fällen ist im Nachhinein ein Abriß der überzähligen Geschosse gerichtlich auferlegt worden. Aber der weiteren Verdichtung des Zentrums wird damit nicht entscheidend entgegengewirkt.
Der morbide Charme der alten Fassaden von San Telmo oder der bunt gestrichenen Wellblechwände des Einwanderungsviertels La Boca, die die TouristInnen so gerne bewundern, wird zunehmend erdrückt durch den Verkehr und die bauliche Verdichtung. San Telmo wird zum Viertel der Bohème, die alten Gemäuer zu Luxusappartements umgebaut. Der Flohmarkt an der Plaza Dorrego wandelt sich zum Touristennepp. Wer im Quartier die hohen Dollarmieten nicht mehr zahlen kann, muß in die Peripherie ziehen.
Verwaltung des hauptstädtischen Chaos
Gibt es überhaupt ein Konzept zur Stadtentwicklung? “Eine moderne und saubere Hauptstadt”, scheint das einzig erkennbare Motto. Wer im Hauptstadtbezirk lebt, soll in Ruhe einkaufen gehen können, ungestört von ambulanten HändlerInnen und BettlerInnen, soll sich in seinem Appartement sicher fühlen können. Einige alte Repräsentationsbauten an der Avenida de Mayo hatte die Regierung 1992 aus Anlaß der 500-jährigen Eroberung Lateinamerikas mit Geldern der spanischen Regierung renovieren lassen. Als architektonische Glanzlichter gelten heute jedoch eher die neuen Shoppings, eigentlich nichts anderes als typische us-amerikanische Malls. Ein Tageserlebnis mit Einkaufsbummel, Unterhaltung, Mode, Fast Food, Small Talk. Die, die sich die Kleidung und den Kaffee hier nicht leisten können, kommen eben nur zum Staunen: leuchtende Schaufenster, alles blitzt vor Sauberkeit und die Menschen sind chick und erfolgreich. Der Traum vom Wohlstand – hier wird er immer wieder neu erzeugt.
Zu den wenigen Vorzeige-Projekten der Stadtregierung gehört der Umbau des alten Bahnhofsgeländes von Retiro. Nach Jahren der Mißwirtschaft und anschließender Privatisierung der Eisenbahnen fahren hier nur noch Vorortzüge. Da der Transport von Gütern fast völlig auf der Straße abgewickelt wird, benötigt man nun für Gleisanlagen weniger Platz. Im Rahmen der vorgesehenen Bebauung und Begrünung versucht man, sich zugleich des letzten größeren Armenviertels im Hauptstadtbezirk zu entledigen. Dessen BewohnerInnen leben schon seit Jahren hier und haben sich ihre Häuser schrittweise im Eigenbau verbessert. Nun müssen sich ca. 30.000 Menschen eine neue Heimat suchen. Ihre Chancen, sich den Lebensunterhalt als ambulante HändlerInnen vor dem Bahnhof oder dem nebenan liegenden Busbahnhof zu verdienen, wurden schon zuvor stark eingeschränkt. Hier darf nur noch verkaufen, wer die Standgebühr zahlt. Damit keine illegalen Stände errichtet werden, hatte die Stadtverwaltung zu baulichen Maßnahmen gegriffen und große Blumenkübel auf die Gehwege zementieren lassen. Die peronistischen Bürgermeister folgen hier einer Tradition der Militärs, die zwischen 1976 und 1981 durch die Vertreibung von fast 300.000 Menschen aus ihren Vierteln versuchten, das Problem illegaler Siedlungen mit Gewalt zu lösen.
Sonstige Eingriffe der Verwaltung erfolgen nur noch in Notfällen. Platzt eine Hauptwasserleitung und setzt ganze Quartiere unter Wasser, wie in den Monaten Dezember und Januar gleich zweimal geschehen, wird eben repariert. Für eine regelmäßige Wartung fehlt das Geld. So ist das Kanalisationsnetz immer wieder verstopft und kann die anfallenden Wassermengen nicht ableiten. Bei starken Regenfällen kommt es regelmäßig zu Überschwemmungen. Die Folgen sind der totale Zusammenbruch des Verkehrs und die zeitweise Stilllegung von U-Bahn-Linien.
Das Stadtzentrum, in dem Banken, Regierungsgebäude und Kultureinrichtungen konzentriert sind, erstickt regelmäßig im Verkehrschaos. Die Stadtverwaltung setzt dem einen weiteren Ausbau des Straßennetztes entgegen. So muß am Retiro-Bahnhof vor allem Platz für einen neuen Autobahnzubringer geschaffen werden. Auf der “breitesten Straße der Welt”, der 9 de Julio, sollen die bisher durch Parkplätze belegten Fahrspuren erneut für den Verkehr freigegeben werden. Die Versuche, zur Einschränkung der Luftverschmutzung die Zahl der fahrenden privaten PKWs zu beschränken, wurden so stümperhaft durchgeführt, daß nicht einmal den VerkehrspolizistInnen klar war, wer mit welchem Kennzeichen an welchem Wochentag eigentlich Fahrerlaubnis hat, beziehungsweise auf welche Monate die Maßnahme eigentlich beschränkt war.
Seit Jahrzehnten wird zwar zum ersten Mal wieder in die Erweiterung des U-Bahn-Netzes investiert. Allerdings wird nur eine der bestehenden Linien verlängert. Dem gabelförmig auf das Zentrum konzentrierten Netz fehlen jedoch die entlastenden Querverbindungen. Das Straßennetz ist in schlechtem Zustand, was erheblich zur Verkehrsunsicherheit beiträgt. Mitte vergangenen Jahres kalkulierte man im Hauptstadtbezirk etwa 50.000 überwiegend schlecht gesicherte Baustellen auf Straßen und Gehwegen, die durch die inzwischen gänzlich privatisierten Unternehmen für Telefon, Gas, Wasser und Elektrizität verursacht wurden und teilweise seit drei Jahren unverändert offen standen. Lediglich die Erneuerung einiger inzwischen privatisierter Fernstraßen schreitet voran. Gerade die immer stärker befahrenen Überlandstraßen, auf denen der Fernreiseverkehr in Bussen und der Gütertransport abgewickelt werden, sind jedoch bisher die reinsten Todespisten.
Täglich kommen in Argentinien 52 Menschen im Straßenverkehr ums Leben. Dazu tragen allerdings auch die zahllosen Unfälle mit Taxis und Nahverkehrsbussen in Buenos Aires bei. Zur Erhöhung des Verdienstes der privaten Transportunternehmen wird gerast. Nach spektakulären Busunfällen mit mehreren Toten im Hauptstadtbezirk Ende letzten Jahres wurden nun schärfere Kontrollen und der Einbau von Geschwindigkeitsreglern in den Bussen angekündigt.
Nach der neuen Verfassung soll die Hauptstadt nun politische Autonomie erlangen, ihr Bürgermeister zum ersten Mal von den BürgerInnen selbst gewählt werden. Der Frente Grande-Kandidat Ibarra scheint nach den bisherigen Umfrageergebnissen der aussichtsreichste Kandidat zu sein. Nach Jahren der Korruption und Untätigkeit der Verwaltung, nach Jahrzehnten planloser Entwicklung scheinen viele darauf zu hoffen, daß er die Fehlentwicklungen stoppen kann. Eine leichte Aufgabe übernimmt er allerdings nicht, denn inzwischen ist die Hauptstadt mit 2 Mrd. Dollar verschuldet. Eine neue Planung muß entwickelt werde, der letzte Generalplan datiert von 1962. Zudem werden strukturelle Verbesserungen nur in Absprache mit der umliegenden Provinz möglich sein. Diese ist jedoch eine peronistische Hochburg und die gewachsene politische Bedeutung des Hauptstadtbezirkes wird dort nicht nur FreundInnen finden.