Die Gewerkschaften und der MERCOSUR
Unkoordinierter Widerstand in Argentinien gegen
Der MERCOSUR birgt viele Gefahren für die Bevölkerungen der sich integrierenden Länder. Der Druck der Weltmarktkonkurrenz veranlaßt die Regierungen der MERCOSUR-Staaten, die nationale Wirtschaftspo-litik maximal auf die Bedürfnisse der inländischen Unternehmen auszurichten. Die Interessen der ar-beitenden Bevölkerung fallen so wieder einmal unter den Tisch. Die Ausgangssituation war schon bei Vertragsabschluß nicht rosig: So sind alle Mitgliedsstaaten von hoher Arbeitslosigkeit betroffen. Schwarzarbeit und das Vorenthalten von Sozialleistungen stehen ebenso auf der Tagesordnung wie unsichere Arbeitsplätze und Einstellungen außerhalb der tariflichen Bestimmungen und Arbeitsgesetzgebungen.
In Argentinien beträgt die Arbeitslosigkeit heute fast 20 Prozent. Die Regierung Menem hat mit Übernahme liberaler Programmatik die traditionelle Funktion der Peronisten, die sozialen Interessen der Bevölkerung zu vertreten, aufgegeben. Große Bevölkerungsgruppen verfügten somit über keinerlei Mittel mehr, die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen aufzuhalten. Die Regierung verschärft diese Entwicklung zur Zeit noch im Zusammenspiel mit den argentinischen GroßunternehmerInnen. So unterstützt die Regierung das von UnternehmerInnenseite geforderte Arbeitsflexibilisierungspaket. Inhalt ist die Aufhebung von flächendeckenden Tarifverhandlungen und -verträgen. Diese sollen zukünftig innerhalb einzelner Unternehmen geführt werden. Zudem werden die Entschädigungsregelungen bei Entlassungen modifiziert. Die Verwirklichung des MERCOSUR ist Teil der neoliberalen Wende der Regierung Menems, die insbesondere auch mit umfassenden Privatisierungen argentinischer Staatsunternehmen einhergeht. So entstanden in den letzten Jahren neue privatwirtschaftliche Monopol- und Oligopolgruppen, die häufig mit ausländischen Unternehmen verflochten sind. Diese Gruppen profitieren in erster Linie von der Außenöffnungspolitik, da sie am ehesten in der Lage sind, sich den neuen Bedingungen anzupassen.
Für den MERCOSUR insgesamt gilt, daß durch die unterschiedlichen Lohnniveaus der Mitgliedsländer (zum Beispiel lag der Mindestlohn in Argentinien 1995 bei 250 US-Dollar, in Brasilien jedoch nur bei 122 US-Dollar) Standortverlagerungen und Sozialdumping zu erwarten sind. Dazu kommt, daß sogenannte WanderarbeitnehmerInnen nicht nur aus den Mitgliedsstaaten kommen, sondern auch aus den Anrainerstaaten wie zum Beispiel Peru. Hier sind keine bilateralen Sozialabkommen in Sicht. Auch die Arbeit im Informellen Sektor wird eine immer größere Rolle spielen. In diesen werden viele verstärkt gedrängt, da der offizielle Arbeitsmarkt keine Perspektive und damit keine Existenzgrundlage mehr bietet. Diese Entwicklung wird durch die wachsende Konkurrenz zwischen den Unternehmen noch verschärft. Entlassungswellen und Betriebsschließungen beziehungsweise -verlegungen sind als Folge dieser Marktkonstellation absehbar.
Gegenmacht durch Gewerkschaften?
Nach einer derartigen Analyse stellt sich schnell die Frage nach gesellschaftlicher Gegenmacht. Die Gewerkschaften in Argentinien sind eine der gesellschaftlichen Gruppen, die überhaupt Stellung zur Wirtschaftspolitik ihrer Regierung und zu Zielen und Strategien des MERCOSUR-Projektes genommen haben. Indes sind die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, die den argentinischen Syndikalismus entstehen ließen, im Laufe der Zeit fast vollständig verschwunden.
Das grundlegende Modell der Gewerkschaftsbewegung entstand mit der Regierung Peróns in den vierziger Jahren und war darauf angelegt, die sozialen Kämpfe innerhalb des Landes zu regulieren. Die Entstehung von großen Industrien und Fabriken förderte gewerkschaftliches Denken und Handeln nach europäischem Vorbild. Es entstanden branchenbezogene Gewerkschaften, die sich in großen Dachverbänden zusammenschlossen.
Die Einflußnahme der Gewerkschaften schlug sich bei den Tarifverträgen vor allem in höheren Löhnen und sozialen Absicherungen nieder. Und das in einem wirtschaftlichen Szenario, in dem die Löhne mit ihrer Wirkung auf die effektive Nachfrage als dynamischer Entwicklungsfaktor erachtet wurden, da sie, inmitten einer binnenmarktorientierten Ökonomie, in die “eigenen” Unternehmen zurückflossen. Zusätzlich zeichnete sich Argentinien bis in die siebziger Jahre infolge wachsender Industrialisierung durch eine sehr geringe Arbeitslosigkeit aus.
Die argentinische Gewerkschaftsbewegung hatte aufgrund ihrer Beziehungen zum Staat und zu den Peronisten immer eine starke und mächtige institutionelle Funktion. Trotz der Staatsstreiche in den Jahren 1955, 1969, 1976 sowie der wiederholten Zeiten der Repression hat diese vom Peronismus geschaffene Struktur fast unverändert bis zum heutigen Tage überlebt.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die politische und wirtschaftliche Landschaft im Cono Sur verändert. Nicht zuletzt die Schaffung des MERCOSUR macht deutlich, daß sich die Südländer auf den Weltmarkt orientieren und eine Öffnung ihrer Ökonomien für ausländische Produkte und ausländisches Kapital anstreben. Die Löhne werden nun nur noch als Kostenfaktor gesehen, die Bedeutung als Nachfragefaktor wird vernachlässigt. Die sozialen Kosten der Wirtschaftspolitik der Regierung Menem sind enorm: Die Reallöhne in Industrie und Baugewerbe sind im Vergleich zu 1988 um 26,3 Prozent gefallen. Der Wohlfahrtsstaat wurde demontiert: Schulbildung und die Gesundheitsversorgung sind für große Bevölkerungsschichten unerschwinglich geworden. Kein Wunder, wenn die ärmsten 20 Prozent gerade mal 5 Prozent des nationalen Einkommens beziehen.
Infolge dem Schrumpfen der Produktionssektoren in den letzten Jahrzehnten, verkleinerte sich die Klasse der IndustriearbeiterInnen, die in absoluten Zahlen und im Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung Argentiniens immer weniger Bedeutung hat.
In Argentinien war in den letzten 40 Jahren der Dachverband CGT ohne Konkurrenz und pflegte immer sehr enge Beziehungen mit den Regierungen. Jahrzehntelang galt der argentinische Gewerkschaftsbund CGT als Inbegriff des staatskonformen, kooperativistischen, parteiabhängigen Gewerkschaftsmodells in Lateinamerika.Heute existieren schon zwei große offizielle Gewerkschaftsverbände neben der CGT. Zum einen die 1992 gegründete CTA (Congreso de Trabajadores Argentinos), die als kritikfreudiger gegenüber dem Menemismus gilt. Zumindest auf formeller Ebene verläßt sie das klassische Konzept der Interessengruppenvertretung, indem sie sogenannte Individualmitglieder, zum Beispiel Arbeitslose, akzeptiert.
Zum anderen gründete sich 1993 die MTA (Movimiento de los Trabajadores Argentino), die sich als Opposition zum CGT versteht.
Des weiteren existieren heute mehr als 30 Gewerkschaften auf nationaler Ebene und dutzendweise Untergliederungen im Landesinnern.
Bis in die 80er Jahre organisierten sich die Gewerkschaften im Cono Sur nur auf nationaler Ebene. 1985 wurde nun die CCSCS gegründet (Coordinadora de los Centrales Sindicatos del Cono Sur), die die zentralen Gewerkschaftsverbände Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays umfaßt.
Im Hinblick auf die zu erwartenden sozialen Folgen verursachte der MERCOSUR große Verunsicherung: Welche Arbeitsmarkteffekte, welche Lohnentwicklung würde es geben und wie würde sich die soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten verändern? In Argentinien sind vor allem wesentliche Teile der Massenkonsum- und der Kapitalgüterindustrie durch den MERCOSUR betroffen. Die CCSCS einigte sich Anfang der 90er Jahre auf folgende Forderungen: 1. Einrichtung eines Sozial- und Strukturfonds zum Ausgleich struktureller Ungleichgewichte,
2. Aufwertung der Funktion der ArbeitsministerInnen als HauptvertreterInnen in den MERCOSUR-Institutionen
3. Angleichung der rechtlichen Bestimmungen aller Länder an das internationale Arbeitsrecht, sprich die Normen der Internationalen Arbeitsorganisa-tion ILO. Angestrebt wird eine Sozialcharta, die Grundrechte wie Tarifautonomie, gewerk-schaftliche Organisationsfreiheit und so weiter festlegen soll.
4. Erhöhung des Wissens- und Informationsstandes über den MERCOSUR.
Entweder gehen diese Aussagen und Forderungen an den gesellschaftlichen Problemen vorbei oder sie sind so allgemein gehalten, daß die Gewerkschaften keine Alterantive mehr gegen die Politik ihrer Regierungen (nicht nur gegen den MERCOSUR) zu bieten scheinen. Das ist nur zum Teil darauf zurückzuführen, daß die Schnelligkeit des Integrationsprozesses die verschiedenen Gewerkschaftsverbände überrascht und deshalb überfordert hat.
Der Zusammenschluß CCSCS bestand bei Verhandlungsbeginn zum MERCOSUR erst seit kurzem und verfügte über keine konkreten gemeinsamen Handlungsstrategien. Bis heute bewahren die Gewerkschaftsverbände ihre nationale Ausrichtung.
Entscheidend für die Schwäche der Gewerkschaften ist außerdem, daß sie unter fehlender Anerkennung in der Bevölkerung leiden. Im Falle Argentiniens wird der CGT-Spitze, des einzigen argentinischen Dachverbandes, der in der CCSCS organisiert ist, Korruption, undemokratische Strukturen und das Verfolgen eigener Machtinteressen vorgeworfen.
Unkoordinierte Proteste
Im Zusammenspiel mit dem Versagen traditioneller Gewerkschafts- strategien scheinen angesichts des freien Spiels der Marktkräfte, der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und der wirtschaftlichen Außenöffnung kaum erfolgreiche Konzepte für Gegenmacht in Sicht. Eine Auseinandersetzung mit der steigenden Armut, der Beschäftigung im Informellen Sektor sowie deren fließenden Grenzen zum formellen Arbeitsmarkt fehlt. Dies läßt die Gewerkschaften zunehmend zu ständischen Vertretungen immer kleiner werdender Interessensgruppen werden.
Die Angst der Bevölkerung in Argentinien, insbesondere vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, ist etwas sehr Greifbares geworden.
Die Gewerkschaften setzen der offiziellen Politik und der Durchsetzung von Unternehmensinteressen nur sehr schwachen Widerstand entgegen. Nichtsdestotrotz bleiben die Gewerkschaftsmitglieder eine mobilisierbare Basis, wie sich unter anderem in dem Generalstreik am 8. August 1996 gegen den Sozialabbau gezeigt hat. Aufsehen hat auch die einige Minuten dauernde “Dunkelheit” in Buenos Aires erregt, ausgelöst durch das kollektive Licht-Ausschalten in Privathaushalten. Diese Protestmomente sind in Argentinien in den letzten Jahren eher unkoordiniert und entfachen sich meist regional und in punktuellen Aktionen. Schon in den Zeiten der Hyperinflation 1990 kam es zu beträchtlichen sozialen Unruhen, die jedoch nicht in eine gezielte oppositionelle Strategie, sondern in Überfällen und Plünderungen von Supermärkten mündeten. Diese Form von Protest wiederholte sich im Juli 1996, als über 400 RentnerInnen und Arbeitslose verschiedene Supermärkte in der argentinischen Hauptstadt plünderten. Eine Protestaktion, die durch die Ankündigung erneuter Kündigungswellen und Rentenkürzungen durch Präsident Menem ausgelöst wurde.
In der Bevölkerung besteht also Widerstand gegen die sozialen Einschnitte, die durch den MERCOSUR aufgrund seiner Durchsetzung “von oben” nur verschärft werden können. Ein neuer Ansatzpunkt, diese Kräfte zu organisieren, könnte bei den (gewerkschaftlich orientierten) Gruppen liegen, die sich in den letzten Jahren in Argentinien gebildet haben und die ein ständisches Interessenvertretungskonzept abzulehnen beginnen.
KASTEN
MERCOSUR
Anders als frühere Integrationsprojekte in Lateinamerika, die hauptsächlich auf den Abschluß einer Freihandelszone abzielten, ist der MERCOSUR ausdrücklich nicht als Instrument eines defensiven Regionalismus konzipiert. Am 26. März 1991 unterzeichneten die Präsidenten aus Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay in Asunción, Paraguay, den Vertrag, der den MERCOSUR (Mercado Común del Cono Sur) ins Leben rief. Hauptziel des MERCOSUR sollte die sukzessive ökonomische Integration der beteiligten Staaten über die Etappen Freihandelszone, gemeinsame Zollunion und gemeinsamer Markt sein. Mit dem Vertrag von Asunción entstand ab dem 1. Januar 1996 der Binnenmarkt für den freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Jedoch offeriert der Vertrag jedem Land eine Schutzklausel, um zeitweilig Importquoten für bestimmte Güter festzusetzen, falls eine Branche durch den drastischen Anstieg der Einfuhren aus anderen Mitgliedsländern schwere Schäden bei Produktion und Beschäftigung erleiden würde. Damit soll den unterschiedlichen Gegebenheiten der MERCOSUR-Mitgliedsländer Rechnung getragen werden: An dem gemeinsamen Bruttoinlandsprodukt im Entstehungsjahr hat Brasilien einen Anteil von fast 80 Prozent, Argentinien 18 Prozent, der Rest entfällt auf die beiden kleinen Länder. Sehr unterschiedlich strukturierte Volkswirtschaften treffen aufeinander: Während Kapitalgüter und langlebige Konsumgüter vor allem aus Brasilien und Agrar-, Verbrauchsgüter sowie Lebensmittel aus Argentinien kommen, sind Paraguay und Uruguay überwiegend Rohstoffexporteure. Die Parlamente aller vier Mitgliedsstaaten haben den TRATADO DE ASUNCION innerhalb von acht Monaten nach seiner Unterzeichnung ratifiziert, so daß er am 28.11.1991 in Kraft treten konnte. Seit diesem Zeitpunkt haben die Institutionen des MERCOSUR ihre Arbeit aufgenommen. Das oberste politische Gremium ist der “Rat des Gemeinsamen Marktes” CMC. Exekutivorgan ist die “Gruppe des Gemeinsamen Marktes” GMC. Die Bearbeitung “fachlich-technischer” Aspekte des Integrationsprozesses findet auf Expertenebene in elf verschiedenen Arbeitsgruppen statt. Diese AGs erarbeiten Vorschläge, welche für die GMC jedoch nur Empfehlungscharakter haben. Nur in der 11. Arbeitsgruppe (“Arbeitsbeziehungen, Beschäftigung, Soziale Sicherheit”), die den absurden Anschein erweckt, daß diese Angelegenheiten unab-hängig von den 10 Fachgebieten (wie zum Bei-spiel Landwirtschaft und Steuerpolitik) betrachtet werden könnten, haben die Gewerkschaftsverbände ein formelles Rede- und Vorschlagsrecht. Als fünftes Land des amerikanischen Südhälfte ist 1996 Chile dem MERCOSUR beigetreten. Dadurch wird die direkte Öffnung zur Pazifikküste und damit zum Südost-Asien-Handel geschaffen. Außerdem wird zur Zeit der Beitritt Boliviens vorbereitet.”Neu” am MERCOSUR ist, daß im Gegensatz zu früheren wirtschaftlichen Integrationsprojekten in Lateinamerika die Zielsetzung sich nicht nur auf Zollpräferenzen beschränkt, sondern auch die politischen Grenzen am Schluß überflüssig geworden sein sollen – ganz nach Vorbild der EU. Jedoch hat – weder im voraus noch innerhalb des geschaffenen Institutionengebäudes – eine Kon-sultierung gesellschaftlicher Kräfte jenseits von Staat und Unternehmensführungen stattgefunden. Die Schaffung eines gemeinsamen Gremiums, wie zum Beispiel ein gemeinsames Parlament, das eine gewisse Kontrollfunktion einnehmen könnte, ist auch längerfristig für den MERCOSUR nicht geplant. Der MERCOSUR ist die südamerikanische Antwort auf die weltweite kapitalistische Dynamik, in der sich zur Zeit regionale wirtschaftliche Blöcke bilden, die so die nationalen Unternehmen für den internationalen Wettbewerb stärken sollen, nicht zuletzt durch die Entwicklung weltmarktfähiger kostensenkender Produktionskonzepte. Besonders großen Anreiz bietet die neue Freihandelszone den multinationalen Konzernen. Diese können nun ihre Produktionen zentralisieren und dabei den kostengünstigten Standort wählen. Innerhalb der weltweiten kapitalistischen Arbeitsteilung kommt dem MERCOSUR eine ganz bestimmte Rolle zu. So sind die Länder des Cono Sur insbesondere auf steigende Exporte in die Industrienationen angewiesen. Sie erfüllen die Funktion eines “Hinterhofes”, in denen die Multis profitabler produzieren können. Der MERCOSUR, dessen Mitgliedsstaaten in ihren Handelsbeziehungen traditionell stark mit den USA verflochten sind, bedeutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Daraus erklärt sich auch die sehr wachsame Haltung der Europäischen Union, die schon erste Verhandlungen mit MERCOSUR-VertreterInnen zwecks der Schaffung einer Freihandelszone MERCOSUR-EUROPÄISCHE UNION geführt hat. Die EU entdeckt Lateinamerika als noch nicht voll genutzten Absatzmarkt. Den USA soll das Feld nicht allein überlassen werden.