Editorial | Nummer 557 - November 2020

// DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT

Von Die Redaktion

Javier Ordoñez (43) wurde von Polizisten angehalten, als er um Mitternacht zum Kiosk lief. Der angehende Anwalt wurde von Polizeibeamten auf der Straße verprügelt, mit einer Elektroschockpistole gelähmt und in einer nahegelegenen Polizeiwache gefoltert. Er starb an inneren Blutungen sowie mehrfachem Schädelbruch. Seine Ermordung am 9. September, kurz nachdem die strikten Isolationsmaßnahmen aufgehoben wurden, löste landesweite Proteste aus, die in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá in einem Blutbad endeten.

Es sind unfassbare Bilder, die Zeug*innen filmten und ins Internet hochluden. Polizisten bewaffnen Zivilisten und stiften Chaos. Protestierende werden brutal niedergeschlagen, auf sie wird scharf geschossen. In den folgenden Tagen töteten Polizeibeamte 13 Menschen, 400 wurden verletzt. Internationale Empörung angesichts der brutalen Polizeigewalt in Kolumbien bleibt aus.

Es ist nichts Neues: Die kolumbianische Geschichte ist voll von staatlichen Verbrechen. Wer diese Tatsache leugnet, will den kolumbianischen Konflikt weder lösen noch verstehen – so wie Präsident Iván Duque und seine Regierung. Die Ermordung 14 unschuldiger Menschen innerhalb von zwei Tagen auf den Straßen der Hauptstadt, die unfassbare Zahl von 220 Menschenrechtsaktivist*innen, die allein in diesem Jahr umgebracht wurden, und der dramatische Anstieg von Massakern an jungen Menschen durch oft unbekannte Täter sind beispielhaft für die schonungslose Gewalt, welche die Rückkehr des Uribismus an die Regierung im ganzen Land entfesselt hat.

Duque hat die trügerische Politik der „demokratischen Sicherheit“ seines Mentors Álvaro Uribe Vélez (siehe LN 547) wieder zum Gesetz gemacht und das Land remilitarisiert, mit einer Armee, die den Befehl hat, im Zweifel noch schneller zu schießen. Die brutale und korrupte Polizei besteht seit Jahrzehnten und wurde vor 20 Jahren mit der Gründung der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD noch stärker aufgerüstet. Die Polizei verwandelt sich immer mehr zu einer Art paramilitärischem Arm des Verteidigungsministeriums, der straffrei das Recht auf Protest in den Städten niederprügelt.

Aufgrund der nicht endenden Skandale um staatliche Gewalt und der ausbleibenden Reformen der Sicherheitsbehörden, sind die Zustimmungswerte für die einst angesehen Streitkräfte in den Keller gesunken. Die Pandemie hat die Wut noch einmal verstärkt. Die strikten landesweiten Isolationsmaßnahmen wurden von Polizist*innen und Beamten der ESMAD brutal durchgesetzt – in einem Land, in dem 45 Prozent der Erwerbstätigen informell arbeiten. Mittlerweile wird die Polizei laut dem Umfrageinstitut INVAMER von 57 Prozent der Kolumbianer*innen abgelehnt. Die Zustimmung für Präsident Duque ist seit seiner Wahl deutlich gesunken, seine Partei Centro Democrático könnte nach aktuellen Umfragen nicht damit rechnen, erneut den Präsidenten zu stellen.

Allein mit einer Politik der Militarisierung lässt sich die Zustimmung der kolumbianischen Bevölkerung also nicht mehr gewinnen. Darauf zu hoffen, dass die aktuelle Regierung deswegen von ihrem Kurs abweicht, ist aber illusorisch. Die zentrale Stellung (para-)militärischer Kräfte ist aus dem Uribismus nicht wegzudenken. Jedoch gibt die zunehmende Opposition gegen den vorherrschenden Politikstil Grund zur Hoffnung, dass es spätestens bei der nächsten Wahl damit vorbei ist.

 

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