Bolivien | Nummer 491 - Mai 2015

„Die MAS hat die Politiker der Rechten recycelt“

Interview mit dem linken Intellektuellen Luis Tapia

Ende März fanden in Bolivien Departamento- und Regionalwahlen statt. Die LN sprachen mit Luis Tapia über die Rückschläge der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS).

Interview: Börries Nehe

Bei den Departamento- und Regionalwahlen vom 29. März hat die Bewegung zum Sozialismus (MAS) von Präsident Evo Morales einige herbe Niederlagen verzeichnet. Die Partei regiert nur noch in vier der neun Departamentos und nur noch in zwei Hauptstädten. Dabei waren die Verluste des Departamentos La Paz und der Stadt El Alto, beides eigentlich Hochburgen der Partei, wohl die empfindlichsten Rückschläge. Wurde mit den Wahlen der Anfang vom Ende der MAS eingeläutet?
Ich denke, es handelt sich nicht nur um eine Niederlage der MAS, sondern auch um eine persönliche Niederlage von Evo Morales. Er war derjenige, der den Wahlkampf für die Kandidaten geführt hat – als wäre er selber Bürgermeister- oder Gouverneurskandidat gewesen! Die MAS setzt schon seit einer Weile ganz auf Evo Morales und hofft so, die strukturellen und personellen Schwächen der Partei ausgleichen zu können.
Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die MAS sich von dieser Niederlage wieder erholen wird. Einiges deutet darauf hin, dass es sich um eine unumkehrbare Tendenz handelt, insbesondere der Verlust des Departamento La Paz. Denn der Kern der Basis der MAS ist die Bauerngewerkschaft CSUTCB, und der Kern der CSUTCB ist das Departamento La Paz. Die MAS hat hier seit langem eine stramme gewerkschaftliche Kontrolle ausgeübt, inklusive juristischem Druck und Drohgebärden. Und trotzdem haben sie verloren. Und zwar nicht nur auf Departamentoebene, sondern auch in diversen ländlichen Munizipien, wo Kandidaten der indianistas (der radikale indigene Sektor) gewonnen haben. Das zeigt, dass der ländliche Raum in La Paz hart umkämpft ist. Die MAS hat diesen Kampf auf Departamentoebene nun verloren.

Aber die MAS hat ja nicht nur La Paz verloren, sondern sie hat auch in anderen Landesteilen zurückstecken müssen. Welche Tendenzen zeichnen sich im Tiefland ab?
Global betrachtet deuten die Zahlen zunächst einmal auf das Ende der Expansionsperiode der MAS hin. Die MAS ist im Hochland sehr schnell gewachsen und hat dann langsam auch im Tiefland mehr Prozente bei Wahlen bekommen. Jetzt aber haben sie Stimmen verloren, was bedeutet, dass sie bei der letzten Wahl an ihr Maximum gelangt sind und es nun abwärts geht. Und auch das ist etwas, was ich für unumkehrbar halte.
Das Panorama ist durchaus unterschiedlich. Im städtischen La Paz hat die MAS gegen die Linke verloren, und im ländlichen Raum gegen die indianistas. Im Osten und im Süden des Landes hingegen haben sie gegen die alte Rechte verloren – und ich sage „alte Rechte“, da ich der Meinung bin, dass die MAS die neue Rechte darstellt. Im Tiefland stehen sich also die alte und die neue Rechte gegenüber, wobei beinahe alle Kandidaten der MAS aus dem Sektor der Großgrundbesitzer kommen, also jenes Blocks, der die Region immer schon dominiert hat. Fast überall hat die MAS die Politiker der Rechten recycelt und zu ihren eigenen gemacht. Damit hat sie sich in den internen Machtkampf zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse begeben. Vorher wurde dieser Kampf zwischen den traditionellen Parteien ausgetragen, aber die MAS hat einen guten Teil dieser Parteien ersetzt. Sie ist zu einem der Instrumente des Machtkampfes zwischen den Herrschenden geworden, mit dem Vorteil, dass sie Kontrolle über den Staat anbietet.
Natürlich können sich die verschiedenen Gruppen um die Macht streiten. Wichtiger aber ist zu sehen, was die Arbeiter machen werden. Bisher gab es starke Tendenzen, sich mit der MAS zu verbinden, aber diese hat die Arbeiter zurückgewiesen und sich stattdessen mit der alten Elite zusammengetan. Jetzt wo die MAS das Monopol über die Repräsentation verloren hat werden die Konflikte zwischen diesen Gruppen vielleicht nicht unbedingt intensiver, aber sicherlich häufiger werden.

Luis Tapia Luis Tapia ist Professor für politische Philosophie an der Universidad Mayor de San Andrés in La Paz. Tapia ist Mitglied der Gruppe Comuna, einem Kollektiv in dem sich wichtige linke bolivianische Intelektuelle versammelt hatten. Er ist Mitglied eines Verlagkollektivs und Autor zahlreicher Bücher, zum Beispiel von La invención del núcleo común (2006) und Política salvaje (2008). Foto: Börries Nehe
Luis Tapia ist Professor für politische Philosophie an der Universidad Mayor de San Andrés in La Paz. Tapia ist Mitglied der Gruppe Comuna, einem Kollektiv in dem sich wichtige linke bolivianische Intelektuelle versammelt hatten. Er ist Mitglied eines Verlagkollektivs und Autor zahlreicher Bücher, zum Beispiel von La invención del núcleo común (2006) und Política salvaje (2008). Foto: Börries Nehe

Die makroökonomischen Daten des Landes können sich sehen lassen, der gesellschaftliche Reichtum wird fairer verteilt, außerdem findet in Bolivien ein rapider Modernisierungsprozess statt, den viele zu begrüßen scheinen. Wie erklären Sie sich den Verlust des Rückhalts der Regierungspartei?
Es gibt verschiedene Gründe, abhängig von den Regionen und den jeweiligen Sektoren. Im Falle der indigenen Gemeinschaften ist der Grund für die Ablehnung der MAS natürlich die Repression, mit der die Regierung diesen Sektor insbesondere seit 2009 überzogen hat. Sie hat die Anführer verfolgt, die indigenen Organisationen nicht anerkannt und eigene Parallelorganisationen geschaffen, wie in Zeiten der Militärdiktatur. Selbst der Diskurs erinnert an die Zeiten der Nationalen Sicherheit – CONAMAQ und CIDOB (die wichtigsten Indigenen-Organisationen aus dem Hoch- und Tiefland) werden zum „inneren Feind“ stilisiert. Die Repression und Kontrolle ist in den ländlichen Gebieten und insbesondere in La Paz besonders stark. Selbst diejenigen, die mit der MAS Allianzen eingingen, sich aber ihre Autonomie bewahren wollten, wurden massiv bedroht und marginalisiert. Genau hier wurde die MAS nun klar abgestraft.
Aber die empfindlichsten Verluste erlitt die Partei in den Städten. Hier ist die Ablehnung der MAS meiner Meinung nach ein Votum gegen den zunehmenden Autoritarismus und das Klima der politischen Straflosigkeit, das sich breit gemacht hat. Hinzu kommt noch die völlige Instrumentalisierung des Parlaments und der Gerichte sowie insbesondere der Wahltribunale. Es sind also vor allem politische Motive, welche zu dieser starken Ablehnung führen.

Die Regierung stellt sich häufiger mal als „Regierung der sozialen Bewegungen“ vor, und die MAS begann ihre Geschichte als „Instrument“ derselben. Wie steht es denn um die Einbeziehung der Bewegungen in Entscheidungsprozesse und die parteiinterne Demokratie?
Ich würde behaupten, dass es überhaupt keine interne Demokratie bei der MAS gibt. Anfangs handelte die Partei ihre Kandidaten noch mit den Organisationen aus, aber man ist mehr und mehr dazu übergegangen, die Kandidaten per Fingerzeig zu ernennen. Das gilt insbesondere für höhere Ämter. Auf der Ebene der Kandidaten für die Ratsversammlungen in den Munizipien und Departamentos hat die MAS eher die Vorschläge der Organisationen angenommen – deswegen haben sie dort auch mehr Stimmen erhalten, die Leute haben für die von ihnen aufgestellten Kandidaten gestimmt.
Aber an vielen Orten hat es auch Spaltungen gegeben. Die Leute, die vorher mit der MAS alliiert waren, haben nun eigene Bürgerbewegungen gegründet oder sind schon bestehenden beigetreten. Wie gesagt, die Niederlage der MAS ist keiner organisierten Opposition geschuldet, sondern vor allem dieser Vielzahl kleiner Bürgerbewegungen. Und dieses Phänomen ist Ausdruck des Mangels an Mitbestimmung in der MAS, das haben die Bewegungen klar zum Ausdruck gebracht.
Ich glaube auch nicht, dass sich das ändern wird: Die MAS setzte schon seit Langem auf Kandidaten, die Teil der alten lokalen Eliten sind. Manchmal auch auf Teile der neuen, ökonomisch mächtigen Sektoren von Aymaras und Quechuas, aber nie auf die Arbeiter. Und deren Organisationen setzen auch nicht mehr auf die MAS.

Vor den Wahlen hat Evo Morales damit gedroht, oppositionellen Regionen den Geldhahn zuzudrehen. Im Departamento Beni wurde die wichtigste Oppositionspartei in letzter Minute einfach von den Wahlen ausgeschlossen. Spielt die MAS sich als eine Art Staatspartei auf?
Ich denke dass die MAS zu einer sehr schwachen Struktur verkommen ist, seit sie sich in den staatlichen Institutionen eingenistet hat und die Regierung stellt. Die MAS wäre heutzutage ohne den Staat – also wenn sie die Wahlen verliert – mehr oder weniger verloren, denn sie ist nur noch eine Wahlmaschine, die staatliche Ressourcen benutzt.
Was die MAS meiner Meinung nach versucht hat, ist, ein politisches Monopol in sämtlichen Institutionen zu errichten. Und sie sind damit voran gekommen, zuerst die Legislative, dann die Judikative, dann die Wahltribunale – sie haben das Monopol über alle vier Gewalten und benutzen sie instrumentell. Und all das machen sie, um ein extrem zentralisiertes System zu schaffen, in dem alles von der Exekutive entschieden wird. Statt die Autonomie für Munizipien, Departamentos und indigene Gemeinschaften voran zu treiben, wie es die Verfassung vorsieht, setzt die MAS auf einen in der Regierung konzentrierten Zentralismus.
Ich glaube, die MAS hatte den Plan, auch sämtliche Munizipien und Departamente zu besetzen. Das war so eine Art Obsession der Partei, ein kleines blaues Fähnchen über jedem staatlichen Gebäude mit gewählten Autoritäten. Und Beni war da ein großes Hindernis, weswegen sie es nun mit gerichtlicher Manipulation versucht haben. Aber dabei sind sie gescheitert, denn die Leute haben für eine Bürgerbewegung gestimmt, welche die ausgeschlossenen „Demokraten“ ersetzt hat. Im zweiten Wahlgang hat die MAS keine Chance gegen sie.
Die jetzigen Wahlen haben die MAS ins Abseits gestellt, wie man sagt. Die MAS wird nun weder die Departamentos noch die großen Städte regieren. Natürlich werden sie versuchen, die Opposition zu boykottieren, so wie sie es immer gemacht haben. Aber das wird auch schwieriger werden. Vorher hat die MAS oppositionellen Munizipien einfach keine Ressourcen mehr zukommen lassen, damit haben sie einen großen Druck ausgeübt.Manche sind deswegen zur MAS gewechselt, wie die Bürgermeisterin von Oruro. Aber das ging nur so lange gut, wie sie eine klare Mehrheit hatten. Jetzt werden sie wohl oder übel Macht abgeben müssen, denn wenn sie weiterhin mit dem Entzug von Ressourcen drohen, wird die Unzufriedenheit rapide zunehmen. Andererseits – wahrscheinlich machen sie es trotzdem, manchmal wiegt die Rachsucht einfach mehr als die Staatsräson.

Wie funktioniert denn überhaupt die Machtstruktur innerhalb der MAS, und wie übt die MAS Macht über die Gesellschaft aus?
Im Endeffekt gibt es einen Kern, der in der Regierung konzentriert ist. Dazu kommen noch einige Anführer, die nicht unbedingt Regierungspositionen bekleiden, sowie das Führungsgremium der Bauerngewerkschaft CSUTCB. Und dann existiert eine neue Bürokratie, mit verschiedenen Ebenen und Hierarchien, die nicht besonders groß ist, aber ein breitgefächertes Netz von Klientelbeziehungen unterhält. Denn in Bolivien ist es nicht die MAS, sondern es sind die Organisationen der Zivilgesellschaft, welche die Fähigkeiten zur Organisation und Politikgestaltung haben. Die Macht der MAS rührt von der Kontrolle über die staatlichen Institutionen her, und in dem Maße, in dem sie diese verliert, haben sie auch nichts mehr zum Verhandeln.
Die MAS war einmal stark verankert in den Gewerkschaften, insbesondere in der der Coca-Bauern. Aber die Partei hat sich immer weiter von dieser Basis in den Organisationen entfernt. Was nun ansteht, und das wird ein sehr wichtiger Prozess sein, ist der Machtkampf um die CSUTCB. Ich glaube, dass die Bedingung des Bestehens der MAS-Regierung die weitreichende Kontrolle über die CSUTCB auf nationaler Ebene war. Nun, da sie die Macht im ländlichen La Paz verloren hat, werden ihr höchstwahrscheinlich andere Kräfte diese Kontrolle über die CSUTCB streitig machen. Und wenn die MAS die Bauerngewerkschaft verliert, ist sie auch als Partei verloren, das wäre ihr Ende. Ich würde sagen, dass die Wahlergebnisse genau diesen Kampf um die CSUTCB einläuten, der vorher unmöglich war.

Evo Morales wurde ja nicht zuletzt deswegen gewählt, weil man sich von ihm Unterstützung für den Aufbau eines „Plurinationalen Staates“ erhoffte. Dieses Projekt scheint die Regierung begraben zu haben – ist das Erstarken radikaler indigener Bewegungen ein Ausdruck, dass dieses Projekt gesellschaftlich weiter verfolgt wird?
Dazu möchte ich zweierlei sagen. Erstens: Die Idee eines Plurinationalen Staates ist weiter präsent, zum Beispiel in den Territorien, in denen CONAMAQ und CIDOB stark sind. Aber im Moment befinden sich die Menschen dort in einer Phase des Widerstands gegen die Anfeindungen des Staates. Es gibt derzeit keine Perspektive, dass ein Plurinationaler Staat aufgebaut werden könnte, es gibt absolut kein Element von alledem in der Regierung. Diese demontieren eher, was an Plurinationalem Staat existiert. Aber als Teil des politischen Horizonts der indigenen Bewegungen, die heute verfolgt werden, besteht er natürlich weiter.
Es gab Fortschritte in diese Richtung, die danach aber gebremst wurden. Diese Fortschritte wurden in der Zeit der großen Märsche in Verteidigung des TIPNIS erzielt. Der Plurinationale Staat war ja eine Idee der Indigenen- und Bauernbewegungen, die nie besonders viel Rückhalt in den Städten fand. Dort wurde sie eher abgelehnt. Aber die Märsche für den TIPNIS führten dazu, dass einige städtische Sektoren begannen, die Idee der Plurinationalität zu unterstützen. Diese Allianzen könnten irgendwann reaktiviert werden.
Und zweitens: Wir befinden uns, wie gesagt, in einer Phase des Widerstandes, nicht nur in den indigenen Territorien, sondern auch in den Städten. Viele Menschen wollen erst einmal die MAS loswerden, das heißt, wieder Bedingungen für einen politischen Pluralismus schaffen und die politischen Rechte wieder herstellen. Ich glaube, dass es das ist, was die Mehrheit der Menschen jetzt will, denn der Aufbau eines Plurinationalen Staates ist in diesem Moment natürlich keine greifbare Möglichkeit. Das heißt aber nicht, dass man die Idee verworfen hätte.

Sie meinen also, dass die bolivianische Gesellschaft in diesem Moment tatsächlich liberale Werte verteidigt?
Ja, das stimmt. Dank der MAS sind wir wieder da angekommen – wie Ende der Siebziger! Fast wie zu Zeiten der demokratischen Transition.

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