Bolivien | Nummer 452 - Februar 2012

Eine Frage des Stils

In Bolivien dauert die Auseinandersetzung um den Bau einer Überlandstraße durch indigenes Territorium weiter an

Die Regierung Morales war mit dem Versprechen angetreten, einen radikalen Wandel in Bolivien durchzuführen. Eine neue Verfassung wurde formuliert und die Fortschritte im sozialen Bereich sind durchaus beachtlich. Doch im Umgang mit der einstigen Basis seiner Regierung – den indigenen und sozialen Bewegungen – zeigt sich immer mehr eine autoritäre Linie, die eher in Tradition mit den Vorgängerregierungen steht.

Börries Nehe

Sechs Jahre ist Evo Morales nun im Amt, zwei davon als Präsident des „plurinationalen Staates“, als der Bolivien sich im Februar 2009 neu gründete. Die Eröffnung der neuen Legislaturperiode Ende Januar nutzte Morales, um eine Bilanz seiner Regierungszeit zu ziehen. Insbesondere auf dem Feld der Sozialpolitik können sich die von ihm vorgelegten Zahlen sehen lassen: Mehr als zehn Prozent der bolivianischen Bevölkerung – etwa eine Million Menschen – leben dank der Umverteilungspolitik seiner Regierung nicht länger unter der Armutsgrenze, Kindersterblichkeit und chronische Unterernährung konnten drastisch gesenkt werden. Möglich gemacht haben dies sowohl verschiedene assistenzialistische Programme zur Armutsbekämpfung, als auch eine verstärkte Investition in die Infrastruktur des Landes. Dabei ließ Morales keinen Zweifel daran, dass die zurückgewonnene Handlungsmacht des Staates ein Resultat der 2006 erfolgten Verstaatlichung der Bodenschätze ist. So haben sich die Erlöse aus dem Erdgasgeschäft seit 2005 mehr als verdreifacht, die aus den Minen gezogenen staatlichen Gewinne stiegen sogar um 800 Prozent.
Eitel Sonnenschein herrscht in Bolivien dennoch nicht. Denn das vergangene Jahr begann für die Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) mit einer herben Niederlage, nämlich als die Bewohner_innen von El Alto und La Paz das schon beschlossene Gesetz zur Streichung der Benzin-Subventionen kippten (siehe LN 440). Und es endete mit einer weiteren Niederlage, als es indigenen Organisationen gelang, den von der Regierung forcierten Bau einer Überlandstraße durch das „Indigene Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure“ (TIPNIS) zu verhindern. Die Exekutive hat sich im Verlauf des Jahres 2011 sukzessive mit ihrer einstigen Unterstützerbasis überworfen, weswegen mit Spannung auf die Signale gewartet wurde, die sie den sozialen Bewegungen zu Beginn des neuen Jahres senden würde. Doch diese hätten widersprüchlicher kaum sein können: Zur Eröffnung der Legislaturperiode trat zunächst der Vizepräsident Álvaro García Linera vor die Mikrofone und erklärte, die „zeitweiligen Differenzen“ mit den indigenen Bewegungen seien bloß ein „Familienstreit, wie sie dauernd vorkommen“ und stellte baldige Versöhnung in Aussicht. Präsident Morales hingegen, der nur wenige Minuten danach sprach, beschuldigte die Tiefland-Indigenen des Verrats und des versuchten Umsturzes, sogar die Regierungsposten hätten diese schon unter sich aufgeteilt gehabt.
Auch die Vorstellung des neuen Kabinetts trug nicht zur Entspannung der Beziehung zwischen der Regierung und den zivilgesellschaftlichen Organisationen bei. Denn Morales hat sich dazu entschlossen, als „Hardliner“ verrufene, stark umstrittene ehemalige Regierungsmitglieder ins Amt des Ministerpräsidenten und des Innenministers zu berufen. Diverse den regierungskritischen Bewegungen nahestehende Beobachter_innen sehen das als Zeichen einer Verhärtung der Fronten. Der neue Ministerpräsident Juan Ramón Quintana hingegen versicherte, die Veränderung des überkommenen Politikstils der früheren neoliberalen Regierungen und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft weiter voran treiben zu wollen.
An Besserungsbedarf mangelt es diesbezüglich allerdings auch in der jetzigen Regierung nicht. Zwar bemühte sie sich zum Jahresende noch, einen neuen politischen Konsens herzustellen, indem sie verschiedene gesellschaftliche Sektoren zum „Plurinationalen Treffen zur Stärkung des Wandels“ einberief. Doch das Fortbleiben der indigenen Organisationen des Hoch- und Tieflandes CONAMAQ, CIDOB und CPEM-B, des Gewerkschaftsdachverbandes COB sowie der Minen- und Fabrikarbeitergenossenschaften ließ die Spaltung der einstigen Unterstützerbasis der Regierung erneut offen zu Tage treten. Da die auf dem Treffen erarbeiteten Vorschläge zur Vertiefung des „Prozesses des Wandels“ derzeit von den teilnehmenden Organisationen auf departamentaler und regionaler Ebene diskutiert werden, liegt die neue Regierungsagenda, die am Ende dieses Diskussionsprozesses stehen soll, noch nicht vor. Die aus dem Kongress durchgesickerten Informationen deuten jedoch darauf hin, dass es kaum zu spektakulären Neuerungen kommen wird. Vielmehr soll die bisherige Regierungspolitik weiter vorangetrieben und vertieft werden.
Derweil schwelt der Konflikt um den Bau der Überlandstraße durch das TIPNIS-Gebiet weiter, welcher den Bruch vieler indigenen Organisationen Boliviens mit der Regierung von Evo Morales besiegelte. Seit nunmehr zwei Monaten marschieren Mitglieder des Nationalen Indigenen Rates des Südens (CONISUR), der einen Teil der Bewohner_innen des TIPNIS repräsentiert, gen La Paz, um die Rücknahme des „Gesetzes zum Schutz des TIPNIS“ zu erreichen. Das Gesetz, welches den Straßenbau durch das indigene Territorium untersagt, wurde im Oktober erlassen, nachdem ein Protestmarsch der indigenen Organisationen trotz massiver Repression durch die Regierung eine beispiellose Solidarisierung in der Bevölkerung erfahren hatte (siehe LN 450). Der Marsch des CONISUR hingegen, der Ende Januar (nach Redaktionsschluss) in La Paz ankommen soll, wurde weitestgehend mit Missachtung gestraft. Denn die Regierung hatte den ihr treuen CONISUR, der Teil der Föderation der Kokabauern ist, schon im Verlauf der Proteste der indigenen Organisationen gegen das Bauprojekt praktisch als einzigen legitimen Gesprächspartner des TIPNIS auserkoren und ließ es auch seitdem nicht an Unterstützung mangeln. So wurde der Marsch des CONISUR schnell als Manöver der Regierung verunglimpft, um den Bau der Überlandstraße durch das TIPNIS doch noch durchzusetzen.
Tatsächlich erfährt der regierungsnahe Marsch der CONISUR eine gänzlich andere Behandlung als die gegen die Regierungspläne gerichteten indigenen Proteste des vergangenen Jahres. Während die Regierung Morales diese mit Telefonüberwachung, Anschuldigungen und polizeilicher Repression zu delegitimieren versuchte, wurden die Repräsentant_innen des CONISUR gleich zu Beginn ihres Marsches in den Präsidentenpalast geladen. Die Regierung der MAS im Departement Cochabamba versuchte ihre Basis zu mobilisieren, um dem Marsch einen triumphalen Empfang zu bereiten, allerdings ohne Erfolg. Stattdessen gab der Sprecher der regierungstreuen Organisation bekannt, man werde Cochabamba ob der Kälte, mit der das Departement dem Marsch begegnete, so schnell wie möglich wieder verlassen. Zudem bestehen Regierungsmitglieder seit Wochen auf einem Treffen der Verantwortlichen der regierungskritischen indigenen Bewegungen mit dem CONISUR, was diese – wohl um die Position der Regierung und des CONISUR nicht zu stärken – kategorisch ablehnen. Unklar ist, inwieweit die wiederkehrenden Vermutungen wahr sind, der Marsch der CONISUR sei komplett von der Regierung finanziert und gesteuert: Beobachter_innen berichten von extrem prekären materiellen Bedingungen unter den Marschierenden.
Trotz fallender Umfragewerte und mangelnden gesellschaftlichen Rückhalts für den Bau der Straße quer durch das TIPNIS, scheint die Regierung um Evo Morales fest entschlossen, das Projekt durchzusetzen. So trat der Kongress Mitte Januar auf Drängen des Vizepräsidenten García Linera zusammen, um die Frage des TIPNIS nochmals zu beraten. Und wenige Tage vor dem Eintreffen des Marsches der CONISUR in La Paz erklärte der Vizeminister für die Koordinierung mit den sozialen Bewegungen, César Navarro, das Gesetz zum Schutz des TIPNIS sei lediglich aufgrund der „Konjunktur des Moments“ erlassen worden, die ein schnelles Handeln unumgänglich gemacht hätte. Im Klartext bedeutet das nichts anderes, als dass die Regierung auf die Forderungen der indigenen Bewegungen nur einging, um den Protesten ein schnelles Ende zu bereiten, aber nie daran dachte, diese auch zu erfüllen. Wäre dies der Fall, so stünde die Regierung damit in der unlauteren Tradition ihrer Vorgängerinnen – eine Veränderung des Politikstils sähe freilich anders aus.

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