Kuba | Nummer 391 - Januar 2007

Die Musik spielt etwas leiser

Die Gewöhnung an die Abwesenheit Fidel Castros

Für Raúl Castro müssen sie einen zentralen Platz in der Witzkultur des Landes erst noch finden. Währenddessen wundern sich die KubanerInnen über die Normalität des Über­gangs, der dem wirtschaftlich gesundenden Land neue Perspektiven eröffnet. Ein grundlegender Kurswechsel ist gegenwärtig jedoch nicht in Sicht.

Hinnerk Berlekamp

Witze mit Raúl Castro? Natürlich gibt es sie, jede Menge sogar, auch wenn sie nicht allerneuesten Datums sind. Den zum Beispiel: Fidel Castro sitzt an seinem Schreibtisch, vor sich die Pläne für eine Brücke von Havanna nach Miami. “Faszinierend”, sagt er zu seinem Bruder Raúl, “dieses Meisterwerk der Ingenieurkunst müssen wir unbedingt bauen. Aber was machen wir, wenn dann alle abhauen? Zum Schluss bleiben nur wir zwei hier sitzen.” Fragt Raúl zurück: “Du und wer noch?”
Aber Witze über Raúl? Witze, in denen er nicht nur als Stichwortgeber für den Älteren fungiert? Die ihn selbst aufs Korn nehmen? Mehr als vier Monate regiert er die Insel nun schon, wenigstens in dieser Zeit müsste den sonst so spöttischen Landsleuten doch etwas über ihn selbst eingefallen sein, möchte man meinen. Doch Fehlanzeige in Havanna. Nicht eine einzige Sottise über den Verteidigungsminister und ewigen Zweiten, der nun de facto die Nummer Eins geworden ist. Den KubanerInnen, so scheint es, hat es die Sprache verschlagen.
„Raúl gehörte für mich lange in die zweite Kategorie”, sagt Carmen R., Buchhalterin. „Bis nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die ‚Sonderperiode’ ausbrach, die große Krise. Da war es Raúl, der Fidel überredete, die Bauernmärkte wieder aufzumachen. Die Armee versorgte die Märkte mit Lebensmitteln, die nur halb so viel kosteten wie die auf dem Schwarzmarkt, und der Hunger ließ nach. Das habe ich ihm nicht vergessen.”
Carmen wohnt in Centro Habana, dem alten Wohn- und Geschäftsviertel Havannas. Es ist eine bedrückende Gegend. Nirgends in der Stadt ist der Verfall so sichtbar wie hier. In fast jedem Straßenzug klafft mindestens eine Baulücke. An manchen Stellen harren noch die Häusertrümmer der letzten Tropengewitter der Räumung. Erdgeschossläden erwecken den Anschein, die verwitterten Rollläden seien schon seit Jahren nicht mehr hochgezogen worden.

Kleine Geschäfte

Und doch sind Veränderungen zu erkennen. Eine Nachbarin von Carmen verkauft seit zwei Jahren aus dem Fenster ihrer Parterre-Wohnung heraus selbstgepressten Obstsaft für zwei und Brötchen mit Schweinefleisch für fünf Pesos (Anmerk. d. Red.: 1 Peso entspricht etwa 3 Eurocents). Den Saft serviert sie in Gläsern mit ungewöhnlich dickem Rand, die sich bei näherem Hinsehen als in der Mitte durchgeschnittene Rumflaschen entpuppen. Einige Häuser weiter hat sich ein Bekannter, ein gelernter Technischer Zeichner, auf die Herstellung von Pizza verlegt, nachdem man in seinem Betrieb monatelang keine Verwendung mehr für ihn hatte. „Arbeit auf eigene Rechnung heißt das offiziell. Du zahlst enorm viel Steuern und hast ständig Ärger mit irgendwelchen Kontrollen, damit du dich ja nicht bereicherst. Aber etwas bleibt zum Leben übrig”, sagt Carmen.
Frischen Putz oder ein wenig Farbe gab es in Centro Habana in den letzten 15 Jahren nur für die Gebäude, in denen neuerdings Lebensmittel, Hygieneartikel, Schuhe oder auch elektrische Geräte für harte Währung verkauft werden. Die Bodegas, in denen die KubanerInnen ihre rationierten Lebensmittel erwerben, sehen jedoch zumindest im Inneren merklich anders aus als in den schlimmen Krisenzeiten Mitte der 90er Jahre: In den Regalen liegt plötzlich wieder Ware, nicht viel, aber immerhin. In einem Laden unweit der Uferpromenade Malecón markieren kleine Pappkärtchen in schöner Handschrift die Artikel. „Kaffee: 1 Paket pro Person – 5,00 Pesos. Öl: ein Viertelliter – 0,70 Pesos. Reis: 5 Pfund zu 0,90 Pesos pro Pfund. Zucker: 3 Pfund zu 0,15 Pesos pro Pfund.” Selbst Seife, jahrelang nur für Dollar erhältlich, ist hier in Havanna für KundInnen mit der passenden Bezugskarte wieder ausreichend vorhanden: ein Stück im Monat pro Person, 25 Centavos.
„Ja, die Versorgung ist besser geworden in den letzten anderthalb oder zwei Jahren”, konstatiert Carmen. „Die Rationen von Reis, Eiern, schwarzen Bohnen sind deutlich angehoben worden.” Anstelle des von den KubanerInnen nie wirklich gemochten Fisches gebe es immer häufiger Hühnchen auf Zuteilung. Auf den Bauernmärkten sei selbst Schweinefleisch erhältlich. „Aber 35 Pesos für das Pfund” – anderthalb Euro umgerechnet – „sind hier eine Menge Geld, wenn du nur 422 Pesos im Monat verdienst wie ich und keine Verwandten in Miami hast, die dir ab und zu ein paar Dollar schicken.”

Erwartungen

Was erwartet sie von der nun neuen beginnenden Etappe? Wie hat sie jenen Tag Anfang August erlebt, an dem anstelle von Fidel Castro plötzlich dessen Privatsekretär im Fernsehen auftrat und die Erkrankung des „Comandante en Jefe” und den verfassungs­gemäßen Übertrag der Vollmachten auf Raúl Castro bekanntgab? „Ich habe einen riesigen Schreck bekommen”, sagt sie. „Ich bin jetzt 50 geworden, und er hat uns regiert, solange ich mich erinnern kann. Den Gedanken, dass er irgendwann nicht mehr dasein wird, habe ich immer von mir weggeschoben. Ergänzend fügt sie hinzu: „Ob er sich wohl wieder erholt? Er sah nicht gut aus in dem letzten Video, das sie im Fernsehen gezeigt haben, auch wenn er jetzt wieder alleine läuft. Aber zur Militärparade am 2. Dezember ist er nicht gekommen.”
Dass einfach überhaupt nichts passierte, als dieser eine Mann plötzlich ausfiel, von dem sie doch glaubten, kein Rad drehe sich auf Kuba ohne seine Erlaubnis, hat viele seiner Landsleute überrascht. „Ich fuhr am nächsten Morgen mit dem Bus zur Arbeit”, berichtet die Webdesignerin Teresa, eine ehemalige Schulkameradin von Carmens Tochter. „Durch das Fenster sah ich die Kinder zur Schule gehen, die Leute standen nach Brot an, alles war wie immer, und ich dachte: Wie kann es sein, dass das Leben einfach weitergeht? So viel Normalität war eine Überraschung.”
Rubén Daubar, der ein kleines Tango-Museum mit angeschlossener Tanzschule verwaltet, widerspricht Teresas Schilderungen. „Nein, es war nicht wie immer”, sagt er. „Die Leute waren bedrückt, auch die, die immer die Klappe aufreißen und über alles meckern.” Er erzählt, dass unten am Malecón, wo abends immer die Pärchen sitzen, an diesen Tagen alles leer war. Dass die Radios nur halb aufgedreht wurden. „Das fiel schon auf, denn Sie wissen ja, wie laut wir Kubaner sonst immer unsere Musik hören.”
Zu den Veränderungen gehört auch, dass die Regierung mehr Polizisten auf die Straße geschickt hat. Die „Komitees zur Verteidigung der Revolution” in jedem Straßenzug sind nachts wieder besetzt, auch wenn mancher Wachhabende sein müdes Haupt auf einen alten Schreibtisch bettet und schnarcht. In mehreren Vierteln haben die Behörden private, also illegal betriebene, Satellitenschüsseln eingezogen und drastische Geldstrafen ver­hängt.

Überraschungen

Ansonsten aber heißt es von der Polizei, sie habe Anweisungen bekommen, sich etwas nachsichtiger zu zeigen und unnötigen Streit mit den BürgerInnen zu vermeiden. Trotz­dem setzten die „Damen in weiß”, Ehefrauen von inhaftierten Regimegegnern, ihre demonstrativen sonntäglichen Kirchgänge mehrere Wochen lang aus. „Es herrscht eine allgemeine Waffenruhe”, sagt ein europäischer Diplomat in Havanna, der bekennt, er hätte sich genauso gut auch eine Welle präventiver Verhaftungen vorstellen können. Die Überraschung darüber, was alles nicht geschehen ist nach dem Ausfall Castros, ist nicht auf die Einheimischen beschränkt.
Die ersten Tage im August habe sie sich gefühlt „wie im Auge eines Hurrikans”, so Teresa über ihre damalige Gefühlslage, „immer in der Erwartung, der Sturm könne jeden Augenblick über uns hereinbrechen und alles umreißen. Nur ganz langsam habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, dass es da gar keinen Hurrikan gibt.” Und sie hat nachge­dacht. „Ich erinnere mich noch an Fidels Erklärung, dass er die Leitung der
Kampagnen im Bildungs-, im Ge­sund­heits- und im Energiesektor jetzt an eine ganze Gruppe von Politbüromitgliedern abgibt. Mir ist erst bei dieser Gelegenheit klar geworden, womit er sich alles persönlich beschäftigt hat, statt die Arbeit zu delegieren”, sagt sie.

(K)Eine neue Ära

Die jetzt offiziell verkündete Verteilung der Verantwortlichkeiten auf eine Reihe von Spitzen­poli­ti­kern hat noch einen ganz anderen Effekt, denkt Teresa. „Wir haben geglaubt, der Laden könne nur in Gang gehalten werden, indem
alles in einer Hand zu­sam­men­­läuft.” Jetzt aber stellten die KubanerInnen plötzlich fest, dass es gar nicht nötig und vielleicht auch gar nicht gut ist, dass sich ein Fidel oder eben auch ein Raúl um alles kümmert. „Wir merken, dass es in Kuba funktionierende Institutionen gibt, die ihr Geschäft verstehen und die man einfach arbeiten lassen muss. Ohne die ständigen Kampagnen und ohne dass jedes geflickte Loch in der Straße als Sieg in der ‚Schlacht der Ideen’ bejubelt wird.” Der Übergang zur Nach-Fidel-Ära habe längst begonnen, „und das ist auch gut so.”
Zu denen, die von dieser vermeintlichen neuen Ära nichts verspüren können, gehört der Dissident Osvaldo Payá. „Was wir erleben, ist kein Übergang zu etwas Anderem, sondern eine Nachfolgeregelung für jemanden, der dann das gleiche tut wie Fidel Castro”, sagt er. Von der nachrückenden jüngeren Politi­ker­Innen-Generation erwartet er herzlich wenig. „Sie sind die Erben eines totalitären Systems. Sollte es unter ihnen Gemäßigte geben, dann verstecken diese es tief in ihrem Herzen.” Im Schaukelstuhl im Patio seines Hauses im Stadtviertel Cerro sitzend, führt er fort, dass es „Hoffnung auf Besserung erst gibt, wenn alle Kubaner erwachen in einem Prozess der Versöhnung und des Wandels”.
Nach einem praktikablen politischen Aktionsplan klingt das nicht, doch das Seine hat der 54-Jährige allemal getan: Payá war der Initiator des „Projekts Varela”, einer streng nach den Buchstaben der kubanischen Verfassung formulierten Petition für größere politische und wirtschaftliche Freiheiten auf der Insel und für eine Amnestierung der politischen Gefangenen. „25.000 KubanerInnen haben unterschrieben, jeder einzelne wurde anschließend von der Staatssicherheit be­sucht und bedroht”, berichtet er. „Diese 25.000 repräsentieren die Interessen und die Wünsche derer, die aus Angst und Verzweiflung schweigen.”

Alle sollen gewinnen

Payá ist Katholik. Auf Hilfe der Amtskirche – der einzigen staatsfernen Institution mit landesweiten Strukturen auf der Insel – kann er nur sehr begrenzt rechnen. Kardinal Jaime Ortega, Erzbischof von Havanna, hat in allen Kirchen für den kranken Präsidenten Gebete sprechen lassen. Ihre Wünsche für Veränderungen im Lande artikuliert die Kirche selbst, zu allen potenziell radikalen Dissidentengrüppchen wahrt sie sorgsam Abstand. In Vida Cristiana, dem Wochenblatt der Erzdiözese, wird dessen Direktor Alberto García sehr schnell sehr direkt: „Jeder Messianismus, der sich vornimmt, ‚die Tortilla umzu­dre­hen’, ohne das Rezept zu verändern, bleibt stecken im Revanchismus”, schreibt er. „Es geht nicht darum, dass die bisherigen Gewinner jetzt verlieren und dass die Verlierer gewinnen. Wir brauchen Spielregeln, nach denen alle gewinnen.”
Mit dem letzten Satz des Jesuitenpaters kann auch die durchaus atheistische Carmen sich anfreunden. Ihr Schwiegersohn hat im Frühjahr zwei Monate lang in Venezuela im Bildungswesen gearbeitet, und er hat außer ein wenig hartem Geld auch einige Anregungen mitgebracht. „Der Sozialismus, von dem Hugo Chávez spricht, hat viel Platz für Privateigentum. Vielleicht kann unsere Führung sich an dieser Stelle etwas von unserem neuen Verbündeten abgucken”, sagt Carmen. „Fidel wollte davon nie etwas hören, was Raúl wirklich denkt, wissen wir noch nicht.”
Dass ein grundlegender Kurswechsel vorläufig nicht zu erwarten ist, darin sind sich Carmen, Teresa und die meisten ihrer Landsleute einig. Westliche BeobachterInnen auf der Insel pflichten ihnen bei. Die Regierung agiert nach außen hin geschlossen, und sie hat das Land in jeder Beziehung unter Kontrolle – politisch und auch wirtschaftlich. Das Nationaleinkom­men errei­chte 2005 erstmals wieder das Niveau von 1989 – dem letzten Jahr der „fetten Kühe”, wie die KubanerInnen die Zeit nennen, als noch die Sowjetunion und ihre Verbündeten die Insel mit allem Lebensnotwendigen versorgten –, und es wächst kräftig weiter. Der wiedergewählte venezolanische Präsident Chávez garantiert die Öl- und damit zugleich die Stromversorgung, China liefert Kühlschränke, Busse, Lo­ko­­motiven. Havanna gilt auch im Westen wieder als kreditwürdig.
Im Fernsehen fehlen jetzt zwar die regelmäßigen Auftritte Fidel Castros am Runden Tisch, doch die Telenovela kommt regelmäßig, und das ist für die meisten KubanerInnen allemal wichtiger. Der Comandante kommt in ihren Gesprächen nur dann noch vor, wenn gerade wieder ein Video von ihm in Pyjama oder Trainingsanzug herausgekommen ist. Oder eben ein neuer oder zumindest recycelter Witz. In einem von ihnen wird Pepito, der kubanische Zwillingsbruder des deutschen Klein-Fritzchen, gefragt, wo man Castro denn dereinst ein würdiges Grab bereiten solle. „Ganz egal, nur nicht in Jerusalem”, antwortet Pepito. „Sonst feiert er am dritten Tag Auferstehung!”

Eine längere Version dieses Artikels erscheint in der Zeitschrift Inter­nationale Politik, Ausgabe 1/2007.


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