Brasilien | Nummer 355 - Januar 2004

“Die Regierung Lula ist die força aliada, die verbündete Kraft der Landlosenbewegung“

Interview mit Adalberto Martins von der MST

Seit 1990 arbeitet Adalberto Martins für die MST (Movimento dos Trabalhadores Ruais Sem Terra). Er ist Mitglied einer Gemeinschaftsdirektion in São Paulo, die für die Planung der Agrarproduktion und der Landwirtschaftskooperativen der brasilianischen Landlosenbewegung zuständig ist. Außerdem kümmert sie sich um die technische Ausbildung ihrer Mitglieder, der Sem Terras. Der 37-jährige engagiert sich zudem bei politischen und sozialen Projekten der Landbesetzungen. Anfang November letzten Jahres reiste Adalberto Martins nach Deutschland: Er vertrat die MST auf dem Fachseminar „Agrarreform in Brasilien – eine Herausforderung für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit“ in Bonn. Die Veranstaltung wurde von FIAN (Food First Informations- und Aktions-Netzwerk) und anderen deutschen NROs und Hilfswerken organisiert. Im Interview mit Adalberto Martins war der Grundtenor schnell klar: Obwohl die Regierungszeit Lulas bisher nicht befriedigend verlaufen ist, glaubt die MST weiterhin an den „Metallarbeiter an der Macht“ – und zeigt sich solidarisch.

Miriam Müller, Saskia Vogel

Seit fast einem Jahr wird Brasilien von Lula regiert. Wie schätzt MST die bisherige Regierungszeit ein?

Wenn wir auf das letzte Jahr Lulas zurückschauen, sind die effektiven politischen Maßnahmen sehr rar. Lula zeigt leider die Neigung, neoliberale Politik weiterzuführen, anstatt mit ihr zu brechen und ein alternatives Modell zu erarbeiten.
Das ist auch Folge der ökonomischen Krise, die wir von der letzten Regierung unter Fernando Henrique Cardoso geerbt haben. In seiner achtjährigen Regierungszeit hat Cardoso mit seiner neoliberalen Politik das Land an den Rand eines inflationären Kollaps getrieben und eine Steuer- und Wechselkurskrise provoziert. Deswegen muss die aktuelle Regierung viele Zugeständnisse an das Kapital machen und eine Politik der wirtschaftlichen Angleichung betreiben. Das führt zu einer Kürzung der sozialen Ausgaben, auch für die Umsetzung der Agrarreform.
Dabei ist die Regierung Lula das Ergebnis eines Wahlprozesses, in dem die brasilianische Gesellschaft sich eindeutig für eine Veränderung ausgesprochen hat. Sie hat gegen die alten Politmächte und damit gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell gestimmt. Doch die Regierung ist nicht einfach eine Links-Regierung, sondern eine Koalition zwischen Links und Rechts, die Kompromisse eingehen muss, eine Regierung im Umbruch sozusagen. Linke Kräfte sind in der Regierung Lula ebenso präsent wie rechtsgerichtete und konservative Kräfte – und wirken gegeneinander. Somit ist der Charakter der Regierung nicht wirklich klar. Sie muss sich noch definieren und es ist nicht eindeutig, welche Position sie beziehen wird.
Lula, der „Metallarbeiter an der Macht“, hat für die Brasilianer eine große Symbolkraft. Doch dies allein reicht nicht, um Lösungen für die Probleme des brasilianischen Volkes zu erarbeiten und vor allem zu konkretisieren. Bisher hat die Regierung nicht viel geleistet, sie hat mehr dem Finanzkapital als dem eigenen Volk gedient.
Wir sind überzeugt: Geht das Volk nicht auf die Straße und werden Alternativen nicht diskutiert, dann findet die Regierung wahrscheinlich nicht den Weg zu linker Politik. Stattdessen wird sie dazu neigen, in der Mitte zu bleiben und ein Recycling der neoliberalen Politik zu betreiben.

Wie lange wird die MST sich dann noch mit der Regierung Lula solidarisch zeigen?

Obwohl in diesem Jahr die Regierung nicht wirklich auf die Bedürfnisse der brasilianischen Bevölkerung, besonders auf die der Landarbeiter eingegangen ist, glauben wir an die Regierung. Wir tragen Verantwortung für sie und unterstützen sie. Sie ist von einer demokratischen Plattform gewählt worden und muss der Verantwortung daraus gerecht werden. Wir sind unabhängig im Bezug auf die PT (Partido dos Trabalhadores), aber trotzdem fühlen wir uns mit ihr verbunden. So sehen wir die Regierung Lula weiterhin als força aliada, als verbündete Kraft der Landlosenbewegung.
Das letzte Jahr ist politisch nicht befriedigend verlaufen, gleichwohl gibt es eine interessante Reaktion von Seiten der Großgrundbesitzer: Diese sind heute besorgt, dass die aktuelle Regierung ihr Versprechen, eine Agrarreform durchzuführen, einlösen wird.

Kannst du die Agrarreform umreißen, die sich die MST vorstellt?

Das ist ein sehr komplexes Thema und lässt sich schwer in wenigen Sätzen skizzieren.
Ein zentraler Punkt ist die Demokratisierung des Zugangs zu Land: Die Agrarreform kann nur durch Enteignung des Großgrundbesitzes realisiertd werden – nicht über die Vermarktung von Land.
Der zweite zentrale Punkt ist, dass die derzeit vorherrschenden Produktionsmethoden grundlegend verändert werden müssen. Es darf nicht weiter an der Exportmonokultur festgehalten werden, die auf schädlichem Einsatz von Chemikalien und Gentechnik basiert. Stattdessen fordert die MST eine stärkere Diversifizierung der Produktion und eine bessere Umweltverträglichkeit.
Ein anderer wichtiger Punkt hinsichtlich der Agrarreform ist die öffentliche Politik im Bezug auf Kredite, technische Betreuung und Ausstattung. Denn um eine Produktion, wie wir sie uns vorstellen, gewährleisten zu können, muss die nötige Infrastruktur zur Verfügung stehen – und auch den Kleinbauern zugänglich gemacht werden.
Für uns ist klar: Agrobusiness und Kleinstbetriebe können unmöglich nebeneinander existieren. Denn Agrobusiness impliziert immer die Konzentration von Land, Krediten und Erträgen. Und gerade dagegen gehen wir vor: Die politische Macht der Großgrundbesitzer muss eingedämmt werden.

Im September diesen Jahres wurde der Anbau von Gensoja in Brasilien legalisiert. Was bedeutet dies für die MST?

Das genetisch veränderte Soja in Brasilien ist Kern eines speziellen Entwicklungsmodells für die Landwirtschaft. Durch sie wird die Einführung eines auf Export, Agrobusiness und Landkonzentration ausgerichteten Modells symbolisiert.
Die Legalisierung des Gensoja bedeutet für die MST eine politische Niederlage und hat unsere Hoffnungen sehr verringert. Gleichzeitig heißt dies aber nicht, dass wir aufhören, gegen Gentechnik jeder Art und für die Agrarreform und ein autonomes, demokratisches Entwicklungsmodell zu kämpfen. Es werden sich folglich noch viele Konfliktfelder auftun, denen nachgegangen werden muss.

Seit dem Regierungsantritt von Lula hat die Gewalt gegen die Landlosen zugenommen. Kannst du dazu Stellung nehmen?

Die Zahl der mobilisierten Landarbeiter hat seit Regierungsantritt zugenommen, es gibt heute 170.000 Familien in Landbesetzungen. Dementsprechend sind die Landbesetzungen größer und es kommt zu einer Anhäufung von Konfrontationen mit Großgrundbesitzern und ihren bewaffneten Milizen. Doch die Gewalt ist immer noch regional konzentriert, es handelt sich nicht um eine übergreifende Taktik. Hauptsächlich ist die Gewalt im Süden von Pará zu lokalisieren, in Paraíba und Paraná. Das sind Regionen, in denen der Großgrundbesitz historisch gesehen immer sehr konservativ gehandelt und reagiert hat.
Die Gewalt ist aber auch Ergebnis einer Gewissheit, die die Großgrundbesitzer über die Regierung Lula haben: Sie können nicht mehr auf die Bundesregierung zählen, um ihre Interessen verteidigt zu sehen. Kurz gesagt: Sie haben Angst. Sie sehen sich gezwungen, selbst zu handeln und bewaffnet auf die Infragestellung des Eigentums zu reagieren, ohne auf die Bundesregierung zu warten. Die Tendenz ist, dass die Konflikte sich ausweiten und gewalttätiger werden.

Gibt es Neuigkeiten über die inhaftierten Führungsmitglieder der MST, zum Beispiel José Rainha? (vgl. LN 353)

In der vergangenen Woche haben wir erreicht, dass einige Führungsmitglieder, unter anderen die Ehefrau von José Rainha freigesprochen wurden. Er selber ist hingegen mit mehr als einem Prozess belastet und bleibt inhaftiert, auch wenn er in einem oder zwei Fällen freigesprochen wurde.
Derzeit sind insgesamt 17 Führungsmitglieder der Landarbeiter inhaftiert und gegen 23 weitere liegt ein Haftbefehl vor. Die zahlreichen Verhaftungen unter der Regierung Lula, die mit den Landkonflikten einhergehen, sind definitiv nicht zu tolerieren. Sie sind dem immer noch sehr konservativ agierenden Justizsektor zuzuschreiben. Dessen Verhaltensweise wird die Durchsetzung der Agrarreform zusätzlich erschweren.

Wie reagiert die ansässige Bevölkerung auf die Landlosen, wenn es zu Landbesetzungen der MST kommt?

Uns wird sehr viel Solidarität entgegengebracht. Die brasilianische Bevölkerung sieht in der MST eine sehr mutige Bewegung, die Stärke und Autonomie zeigt. Die Brasilianer verstehen die Ungerechtigkeit, in der sich die Landarbeiter befinden und gegen die sie kämpfen. Ein Grund hierfür ist unter anderem, dass sich auch die Generation, die heute in der Stadt lebt, noch stark dem ländlichen Raum verbunden fühlt. Viele sind selbst auf dem Land aufgewachsen und später emigriert. Sie wissen, wie hart das Landleben ist. Und sie wissen auch, dass die städtischen Probleme ihre Wurzeln im ländlichen Raum haben und das Ausmaß der Migration weiter zunehmen wird.
Daher sieht die Gesellschaft die Ziele der MST als gerechtfertigt an. Sklavenarbeit wird ebenso wenig akzeptiert, wie ausgebeutete und unterernährte Arbeiter. Auch ist klar, dass das Problem der Dürre im Nordosten nicht nur ein klimatisches, sondern vorrangig ein politisches Problem ist.
Die brasilianische Bevölkerung kann die vorherrschenden Ungerechtigkeiten im Land nicht mehr akzeptieren und geht dagegen an.

Vielen Dank für das Gespräch

Ich bedanke mich ebenfalls. Ich würde gerne noch eine Anmerkung machen: Für die MST ist internationale Unterstützung sehr wichtig, nicht nur in Form von staatlicher Entwicklungshilfe. Für den Erfolg der MST und letztendlich für die Durchsetzung einer Agrarreform ist es von großer Bedeutung, breite Teile der Gesellschaft – auch im Ausland – über unsere Arbeit und unsere Anliegen zu informieren. Wir begrüßen daher solidarische Unterstützung von Projekten, Nichtregierungsorganisationen und engagierten und interessierten Personen.


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