Film | Nummer 586 - April 2023

Die Revolte nicht verwelken lassen

Patricio Guzmáns neuer Film Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume liefert ein gefühlvolles Zeitdokument der Revolte in Chile

Von Susanne Brust

In Flammen Foto aus dem Herzen der Revolte (Foto: Real Fiction Filmverleih)

Am Ende seines letzten Dokumentarfilms Die Kordillere der Träume hatte der chilenische Regisseur Patricio Guzmán einen Wunsch geäußert: Chile möge seine Kindheit und seine Freude wiederfinden. Wenige Monate, nachdem der Film 2019 in Cannes Premiere feierte, sprangen Hunderte Schüler*innen über die Drehkreuze der U-Bahnhöfe in Santiago de Chile und lösten damit eine Revolte aus, die das Land von einem Tag auf den anderen umkrempeln sollte. „Chile hatte sein Gedächtnis wiedergefunden“, so beschreibt es Guzmán. Sein Wunsch schien in Erfüllung zu gehen.

Ein Jahr nach Beginn der Revolte fliegt der in Frankreich lebende Regisseur nach Chile und beginnt die Arbeit am Dokumentarfilm Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume, der ab Mitte April auch in deutschen Kinos zu sehen ist. Obwohl er auf einen Umbruch in Chile gehofft hat, haben die Revolte und ihre Form Guzmán überrascht: Es gebe „keine Anführer, keine Ideologie, das ist neu“. Anders als in Guzmáns Naturtrilogie stehen diesmal auch nicht die eindrucksvollen Naturelemente metaphorisch für die komplexe Geschichte des Landes, sondern das Hier und Jetzt in der in Schutt und Asche liegenden Hauptstadt Santiago und die Menschen im Mittelpunkt. „Diese Bewegung trägt die Stimme und das Gesicht der Frauen“, heißt es im Film. Und wohl aus einer bewussten Entscheidung heraus, aber ohne es groß betonen zu müssen, hat Guzmán für Das Land meiner Träume ausschließlich Frauen interviewt. Neben intellektuellen Chileninnen, Verfassungsdelegierten und dem Performance-Kollektiv LasTesis kommen vor allem die zu Wort, die bei den Protesten in erster Reihe standen. „Mit der Revolte bin ich aufgeblüht“

Da ist zum Beispiel die Fotografin Nicole Kramm, die nach Beschuss mit einem Gummigeschoss der Carabineros die Sicht auf einem Auge fast gänzlich verloren hat. Guzmán begleitet eine Rettungssanitäterin, die sich im Straßenkampf um Verletzte kümmert und eine Landbesetzerin, an deren Beispiel die gesellschaftliche Ungleichheit in Chile wohl am stärksten deutlich wird. Besonders bleibt aber das einleitende Gespräch mit einer protestierenden Mutter im Gedächtnis. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie trotz aller Gefahren auf die Straße geht, ihr Hass auf Parteien und Institutionen und ein Satz, der einen an die ersten Tage der Proteste im Oktober 2019 erinnert: „Mit der Revolte bin ich aufgeblüht.“

Gemeinsam Krach machen Die Revolte brachte zu Hochzeiten mehrere Millionen Menschen auf Santiagos Straßen (Foto: Real Fiction Filmverleih)

Das Land meiner Träume bleibt ein typischer Guzmán-Film. Im Oktober 2020 sind die Bürgersteige von Santiago abgetragen und zu kleineren und größeren Steinbrocken zerklopft, die Polizei rast mit Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen durch die Stadt, Tausende Menschen üben sich in kreativen Protestformen und klopfen mit allem Möglichen im gemeinsamen Rhythmus an Mauern und Wände. Guzmán gelingt es, diese Atmosphäre filmisch einzufangen: Zuschauer*innen blicken entweder aus nächster Nähe oder aus der Luft auf die Masse der Protestierenden und das Geschehen. Die grundlegenden und radikalen Forderungen der Straßenkämpfer*innen verbindet er mit den ruhigen Einordnungen der Interviewten. Vereinzelt werden Schwarzweißfotos aus dem Alltag in Santiago eingeblendet, auch die Pandemie findet so Einzug in den Film. Dazu gesellt sich die Stimme des Regisseurs, der seine persönlichen Eindrücke verarbeitet.

Die Geschehnisse wecken in Guzmán, der selbst zu Beginn der Diktatur im September 1973 15 Tage lang als politischer Gefangener im Nationalstadion eingesperrt war, die Angst vor staatlicher Repression und dem Ausgang der Ereignisse. Vor allem machen ihm die Revolte, der anschließende verfassunggebende Prozess und der Amtsantritt von Gabriel Boric aber Hoffnung. Nicht nur in seinen Schilderungen werden Parallelen zur Allende-Zeit gezogen: Auf Archivaufnahmen sieht man Allende; die Menschenmassen um ihn genauso wie 2022 um Gabriel Boric; das ehemalige Kongressgebäude, in dem der Verfassungskonvent tagt. So stehen am Ende der Dokumentation die Zeichen wieder auf Veränderung und Aufbau, Guzmán sieht „allmählich ein neues imaginäres Land“ – das Land seiner Träume.

„Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?“, fragt der Regisseur die Verfassungsdelegierte Damaris Abarca. Sie antwortet: „Dass die neue Verfassung abgelehnt wird und die Rechte in der Politik wieder erstarkt“. Wer die Ereignisse in Chile weiter verfolgt hat, weiß, dass dieser schlimmste Fall heute eingetreten ist, und wird Guzmáns neuen Film voller Träume und Hoffnungen daher mit Wehmut ansehen. Angesichts aktueller Entwicklungen scheint statt dem hoffnungsvollen Fazit eine im Film aufgeworfene Frage passender: „Ich sorge mich um den Ausgang dieses Kampfes. Wer wird zu den Verlierern und wer zu Siegern werden?“

Dass der schon vergangenes Jahr fertiggestellte Film erst jetzt in die deutschen Kinos kommt, tut der Tatsache keinen Abbruch, dass Guzmán der Revolte mit Das Land meiner Träume ein sehr gefühlvolles Zeitdokument geschaffen hat. Es bleibt zu hoffen, dass dieses auch hierzulande ein großes Publikum finden und berühren kann. Vielleicht hilft der Film auch dabei, sich auf die ursprüngliche Kraft der Revolte zurückzubesinnen. Denn angesichts des aktuellen Stillstands scheint es unerlässlich, dass der Druck der Straße zurückkommt und die Revolte wieder aufblüht.

Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume // Patricio Guzmán // Chile/Frankreich 2022 // 83 Minuten // spanisches Original mit deutschen Untertiteln // Deutscher Kinostart: 13. April 2023

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