Chile | Nummer 586 - April 2023

„Chile hätte zum Vorbild werden können”

Interview mit Beatríz Martos von Amnesty International über eine neue Verfassung für Chile und den Kampf gegen Ungleichheit

In Teil drei unserer Interviewreihe zu Chile nach dem verlorenen Verfassungsreferendum sprechen wir mit Beatríz Martos von Amnesty International über die Kampagnenarbeit für das apruebo (Ja zur neuen Verfassung) im Jahr 2022 sowie die Rolle der Menschenrechtsorganisation im aktuellen Verfassungsprozess. Zum Nachlesen: Teil eins und zwei unserer Interviewreihe!

Interview: Kiva Drexel (Übersetzung: Susanne Brust)

Wie kam es dazu, dass Amnesty International im Jahr 2022 eine eigene Kampagne für die neue Verfassung auf die Beine gestellt hat?

Diese Debatte haben wir schon Ende 2019 geführt. Wir waren der Meinung, dass wir nicht nur die Menschenrechtsverletzungen durch Repression und Kriminalisierung während des estallido social beobachten und anzeigen müssen, sondern auch die strukturellen Ursachen erörtern müssen, die zum Aufstand geführt haben. Dazu gehören die massiven Verletzungen ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller Rechte und der Rechte der Umwelt. Amnesty International kämpft weltweit schon seit Jahren gegen Armut als größte Menschenrechtsverletzung. Chile hätte ein Vorbild dafür werden können, wie man die Ungleichheit in der Region abschafft.

Was verspricht sich die Organisation von einer neuen Verfassung?

Amnesty hat schon 2016 zur Regierungszeit von Michelle Bachelet die Kampagne Todos mis Derechos („Alle meine Rechte“) organisiert, die sich dafür einsetzte, dass sich alle Menschenrechte in der Verfassung wiederfinden. Seitdem mahnen wir an, dass die aktuelle Verfassung internationalen Menschenrechtsstandards nicht gerecht wird und, dass bisherige Verfassungsreformen unzureichend waren: Es braucht eine neue Verfassung.
Als 2019 der estallido social ausbrach, war für uns klar: die Verfassung aus Diktaturzeiten ist einer der wichtigsten Gründe für die Ungleichheit in Chile. Sie sichert keinen sozialen und demokratischen Rechtsstaat, sondern einen Subsidiärstaat, der die Menschenrechte nicht garantiert. Dazu zählt das Recht auf soziale Absicherung, Gesundheit, würdige Renten, auf Wohnraum, Wasser, eine saubere Umwelt und so weiter. Als man sich am 15. November 2019 auf einen verfassungsgebenden Prozess einigte, begannen wir in der Organisation zu diskutieren. Als Amnesty International konnten wir in diesem neuen politischen Prozess, der der Menschenrechtsarbeit neue Möglichkeiten öffnete, nicht passiv sein.

Worin bestand die Kampagnenarbeit?

Wir haben (die Bevölkerung) vor allem über die sozialen Medien sensibilisiert und erklärt, warum eine neue Verfassung so wichtig ist. Im Rahmen der Kampagne La Constitución es Nuestra („Die Verfassung ist unsere“) haben wir mit lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen die Artikel des Verfassungskonvents in einfache Sprache übersetzt. Dabei ging es nicht darum, die Menschen davon zu überzeugen, für das apruebo zu stimmen, sondern nur darum, dass die Bevölkerung versteht, worum es geht und wie es ihren Alltag verändern könnte.

Natürlich hätte man die Umsetzung des Textes in Gesetze und Richtlinien genau beobachten müssen. Aber es wäre ein guter Ausgangspunkt gewesen, um Chile gerechter zu machen und die Menschenrechte tatsächlich zu schützen. Im Juli 2022 startete dann die Kampagne Aprobar es Humano („Zustimmen ist menschlich“). Wir riefen dazu auf, für den neuen Verfassungstext zu stimmen. Die Kampagne bestand zunächst aus einer Webseite, auf der wir erklärt haben, warum Amnesty sich für eine neue Verfassung einsetzt. Außerdem konnte man kostenlose Anleitungen für die Tür-an-Tür-Arbeit im Wahlkampf herunterladen, in vielen Teilen der Stadt (Santiago) waren Aktivistengruppen unterwegs und haben die Menschen für das Thema sensibilisiert. Dann haben wir uns an der landesweiten Fernsehkampagne und am Wahlkampf in den freien Radios beteiligt.

Würden Sie sagen, Sie haben damit ein anderes Publikum erreicht als die anderen Apruebo-Kampagnen?
Wir denken, ja. Mit jedem Tag der Fernsehkampagne haben wir neue Follower in den sozialen Netzwerken gewonnen. Wir waren an Orten sichtbar, an denen wir sonst kaum aktiv sind. Zum Beispiel in Puente Alto, Lo Espejo und La Granja – drei Kommunen mit sehr geringen sozioökonomischen Ressourcen. Wir haben dort viele Menschen getroffen, die Amnesty International nicht kannten. Mit Online-Workshops haben wir viele Menschen im ganzen Land erreicht, bis zur Insel Rapa Nui.

Haben Sie mit anderen Kampagnen zusammengearbeitet?

Anfangs haben wir in Betracht gezogen, mit Aprueba por Chile zusammenzuarbeiten, aber daran haben Parteien teilgenommen und so war eine Zusammenarbeit für uns unmöglich. Wir haben versucht, uns mit anderen Bewegungen zu koordinieren, aber das hat nicht funktioniert. Ich habe den anderen Gruppen und Bewegungen immer unser Material geschickt und wir haben unsere Webseite als Plattform für die Aktionen anderer Gruppen zur Verfügung gestellt.

Amnesty hat doch viel Kampagnenerfahrung, von der andere Bewegungen lernen könnten. Gab es eine interne Diskussion darüber, sich besser zu vernetzen?

Wir hatten uns strategisch dazu entschlossen, uns in der inhaltlichen Arbeit auf bestimmte Rechte zu konzentrieren, damit waren nicht alle Organisationen einverstanden. Wir haben erörtert, dass es Nachteile für das apruebo mit sich bringen könnte, sich nur auf die sexuellen und reproduktiven Rechte zu beschränken. Andere Organisationen wollten ihren Fokus zu Recht jedoch genau darauf legen. Wir wollten uns auf die sozialen Rechte konzentrieren.

Am Ende wurde der Verfassungsentwurf abgelehnt, inzwischen hat ein neuer verfassunggebender Prozess begonnen. Hat Amnesty schon Pläne für eine neue Kampagne?

Im Vergleich zum letzten Prozess denken wir, dass die Weiterführung des Verfassungsprozesses in der jetzigen Form keine großen Möglichkeiten zum Schutz der Menschenrechte bietet. Deswegen haben wir schon Ende 2022 beschlossen, dass unsere Rolle sich ab jetzt auf die Beobachtung beschränken wird.

Warum?

Es wird zwar Änderungen geben können, aber dieser Wandel wird nicht so großes Potenzial haben wie der vergangene Prozess. Denn es ist kein partizipativer Prozess: Das Recht auf Information, auf Partizipation, auf die politische Beteiligung derjenigen, die die Politik am Ende betrifft, ist in diesem Moment nicht gesichert, sondern in Gefahr.

Wo bleiben bei diesen enttäuschenden Aussichten die Ideen und die Kraft der Revolte, des Kampfes gegen Ungleichheit?

Diese Forderungen wird es auf dem Kontinent immer geben. Sie werden sich durch die maßlose Steigerung der Preise für Strom und Lebensmittel und durch den Klimawandel verschärfen. Die Bevölkerung wird weltweit, aber vor allem in Lateinamerika, weiter verarmen und das ist das Ergebnis politischer Entscheidungen. Es wird also weitere estallidos sociales geben, nicht nur in Chile. Das haben wir in Peru gesehen, in Ecuador und Bolivien, im Jahr 2020 in Kolumbien. Es wird sich fortsetzen, bis die strukturellen Bedingungen angegangen werden, die die Menschenrechte weiter Teile der Bevölkerung verletzen.

Lässt sich aus der Verfassungskampagne etwas für die internationale Menschenrechtsarbeit lernen?

Von Chile lässt sich viel lernen, sowohl was den Umgang mit dem estallido social angeht als auch den verfassungsgebenden Prozess. Bei Amnesty haben wir gelernt, wie wichtig Bildungsarbeit ist, wenn wir wirklich eine Bevölkerungsmehrheit wollen, die für die Menschenrechte einsteht. Gleichzeitig müssen wir den Staat unter Druck setzen, damit er seiner Pflicht, nämlich jener der Bildung der Bevölkerung in Menschenrechten, nachkommt. Aber auch für die nichtstaatliche Bildungsarbeit gilt: Wir müssen die Räume, in denen wir normalerweise tätig sind, verlassen. Dafür müssen wir Allianzen mit lokalen Organisationen schließen. Dank der Kampagne haben wir viele Kooperationen gestärkt und weitere ins Leben gerufen. Und natürlich müssen wir die strukturellen Gründe für Menschenrechtsverletzungen angehen. Die Forderung, dass der Staat seiner Pflicht nachkommt, muss gemeinsam mit Nachbarn, Kirchen, Versammlungen, Kollektiven, Gewerkschaften und weiteren Organisationen erhoben werden.

EIN NEUER VERFASSUNGSGEBENDER PROZESS

Im zweiten Anlauf der neuen Verfassung für Chile haben Anfang März die 24-köpfige Expert*innenkommission und der Ausschuss zur Prüfung technischer Vorgaben ihre Arbeit aufgenommen. Die vom Parlament ernannte Expert*innenkommission hat am 15. März eine erste Struktur mit 15 Kapiteln verabschiedet. Rechte bis Mitte-rechts Expert*innen stellen im Gremium eine leichte Mehrheit. So eröffnete ausgerechnet Hernán Larraín von der pinochetistischen UDI die erste Kommissionssitzung. Die Mitte-links-Politikerin Verónica Undurraga (PPD) wurde zur Präsidentin und Sebastián Soto (Mitte-rechts-Partei Evópoli) zu ihrem Vize ernannt. Auch den Vorsitz dreier wichtiger Arbeitsgruppen hat sich das rechte Lager gesichert: Politisches System, Rechtsprechung und Bürger*innen-, politische Rechte und Prinzipien. Nur die Arbeitsgruppe für wirtschaftliche, soziale, kulturelle und Umweltrechte wird mit Alejandra Krauss (DC) von einer Mitte-links-Politikerin geführt. Damit tragen neben rechten Parteien vor allem mitte-links-Kräfte wichtige Funktionen, linke Parteien bleiben im Hintergrund.

Am 8. März hat der Wahlkampf zum 50-köpfigen Verfassungsrat begonnen. Ab Juni wird er über den Entwurf der Kommission beraten. 350 Personen haben ihre Kandidaturen auf fünf Listen bekanntgegeben: Die beiden rechten Listen Chile Seguro (UDI, RN und Evópoli) und jene von José Antonio Kasts Republikanischer Partei wollen den Fokus auf das Thema Sicherheit legen. Als rechtspopulistische Partei tritt Partido de la Gente von Franco Parisi mit eigener Liste an. Auf der linken Seite stehen die Mitte-links-Liste Todo por Chile (PPD, DC und PR) und die Liste der Regierungsparteien Unidad para Chile (FA, PC, PS).

In der Bevölkerung herrscht indessen vor allem Desinteresse. In einer Umfrage von Pulso Ciudadano sind zwar über die Hälfte der Befragten für eine neue Verfassung. 57 Prozent setzen jedoch wenig bis gar kein Vertrauen in den neuen Prozess. // Susanne Brust

BEATRÍZ MARTOS

ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 2014 bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Während des verfassungsgebenden Prozesses in Chile (2019 bis 2022) war sie für die Koordination der Kampagne Aprobar es Humano („Zustimmen ist menschlich“) verantwortlich. Heute arbeitet sie beim spanischen Ableger der Organisation.

(Foto: Privat)


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