Chile | Nummer 441 - März 2011

Kurze Antennen

Über den Fortschritt eines neuen Mediengesetzes in Chile, der kaum einer ist

Im Mai 2010 erhielten Community-Radios in Chile ein eigenes Gesetz. Dessen Umsetzung erweist sich jedoch als schwierig und die versprochenen Verbesserungen entpuppen sich als wenig fortschrittlich.

Christof Mauersberger

Es klang vielversprechend: Im Mai 2010 verabschiedete das chilenische Parlament fast einstimmig das Gesetz für Community-Rundfunk (Ley de radiodifusión comunitaria). Für die Radios geht es um konkrete Verbesserungen. Die maximale Sendeleistung wird von einem Watt auf 25 Watt erhöht, Frequenzlizenzen müssen nicht mehr nach drei, sondern erst nach zehn Jahren erneuert werden, und die Ausstrahlung von Werbung, bisher verboten für kleine Radios, ist nun erlaubt. Tatsächlich waren dies jahrelang Forderungen der Community-Radios (vgl. LN 428). Bisher durften diese nur mit dem Status des „Radios mit minimaler Reichweite“ (radios de mínima cobertura) senden, waren bei einer legalen Sendeleistung von maximal einem Watt kaum über den eigenen Straßenblock hörbar und konnten den kostspieligen Lizenzantrag alle drei Jahre und den Unterhalt der Technik ohne Werbeeinnahmen kaum finanzieren. Kein Wunder, dass viele ohne Lizenz oder zumindest mit erhöhter Leistung senden und damit ständig von der Schließung bedroht sind.
Chile hat, ähnlich seinen lateinamerikanischen Nachbarn, traditionell einen sehr konzentrierten, konservativen und gewinnorientieren Medienmarkt. Die Grundlage der Regulierung stammt aus Zeiten der Pinochet-Diktatur. 1994 wurden dann die „kleinen Radios“ mit einem Watt zugelassen, von denen heute etwa 300 in dem Verband ANARCICH (Asociación Nacional de Radios Comunitarias y Ciudadanas de Chile) organisiert sind. Der Präsident von ANARCICH, Alberto Cancino, hat den neuen Gesetzestext maßgeblich ausformuliert. Nach Jahren des Engagements ist er mit dem Ergebnis zufrieden und verweist auf die konkreten Verbesserungen. Allerdings fehlt zur Umsetzung des Gesetzes noch ein Verwaltungsdekret. Im Oktober 2010 hat die Regierung einen ersten Entwurf veröffentlicht, seitdem entfachte sich eine neue Debatte innerhalb der alternativen Medien.
Denn der Teufel steckt im Detail. Zur Finanzierung der Stationen ist Werbung erlaubt, allerdings ausschließlich von solchen Unternehmen, die im Sendegebiet eine Zweigstelle unterhalten. So mag das Stadtteilradio Werbung für den Bäcker an der Ecke senden, in ländlichen Gebieten und bei vielen indigenen Radios kommt diese Regelung jedoch einem Werbeverbot gleich. Dort gibt es in der Regel keine lokal ansässigen Unternehmen oder Geschäfte mit Werbebudget. Juan Ortega vom chilenischen Ableger des Weltverbandes der Community-Radios AMARC (Asociacion Mundial de Radios Comunitarias) ist dem Gesetz gegenüber sehr skeptisch: „Wir besiegeln damit fast das Aussterben der Radios. Kein Radio kann ohne Einnahmen effektiv überleben!“ Selbst die UN-Organisation FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations), so ein Beispiel Ortegas, kann Spots einer Kampagne gegen Hunger nicht über die Community-Radios verbreiten, weil ihre Adresse in Rom ist. An dieser Einschränkung wird auch das Dekret nichts mehr ändern.
Bei der Erhöhung der Sendeleistung und der neuen Frequenzverteilung ist noch einiges offen. Für Community-Radios sind nach dem neuen Gesetz lediglich etwa fünf Prozent des Frequenzbereiches am Ende des Spektrums reserviert. Nun muss zunächst die Regulierungsbehörde SUBTEL die privaten Radios aus diesem reservierten Bereich zum Umzug bewegen. „Die Leute von SUBTEL haben uns gesagt, dass deshalb mit sehr viel Glück frühestens 2012 die erste Ausschreibung für Community-Radios stattfinden wird“, so Ortega. Dieser Frequenzbereich reicht gerade so für die Radios aus, die bereits heute eine Lizenz haben. Wenn diese noch ihre Sendeleistung auf 25 Watt erhöhen, wird es richtig eng. Mittlerweile hat SUBTEL bestätigt, dass wegen dieses Platzmangels die 25 Watt nur in Ausnahmefällen gewährt werden könnten und wohl gar nicht in den Städten. Da selbst 25 Watt sehr wenig sind und „normale“ Radios mit 200 oder deutlich mehr Watt senden, ist absehbar, dass viele Community-Radios wie bisher ihre legale Grenze überschreiten werden. „Da die Radios dann zusammen am Ende des Spektrums liegen, werden sie sich gegenseitig überstimmen. Es wird ein Chaos geben“, befürchtet Juan Ortega.
Er kritisiert zudem, dass der aufwendige Antragsprozess für eine Frequenz nicht vereinfacht wurde. Im Gegenteil: Radios benötigen nun ein Zertifikat der Regierung und Radios indigener Gemeinschaften müssen sogar vorweisen, über einen „Experten zu indigenen Themen“ zu verfügen. „Das ist doch absolut absurd“, meint der Aktivist. Diese Vorgaben standen zumindest in dem Entwurf des Dekretes vom Oktober. In ihren Stellungnahmen haben die Radios dagegen protestiert, aber seit Oktober sind keine neuen Fassungen veröffentlicht worden.
Alberto Cancino hingegen ist zufrieden mit dem, was erreicht wurde. „Wir haben seit Jahren für konkrete Verbesserungen gekämpft. Jetzt war es sehr wichtig, das Gesetz so schnell wie möglich zu verabschieden, weil wir schon ahnten, dass es mit der neuen Regierung von Piñera schwieriger wird“. Die rechte Regierung ist seit März 2010 im Amt und interpretiert das Gesetz auf ihre Weise. Zunächst war sogar eine eigene Kontrollbehörde geplant, die vor einer Lizenzvergabe den Sendeplan der Radios sehen wollte. Alberto Cancino hat bei der Formulierung des Gesetzes eng mit ARCHI, dem Verband kommerzieller chilenischer Radios, zusammengearbeitet. Dies sicherte die Unterstützung des kommerziellen Sektors, erklärt allerdings auch die wenig weitreichenden Veränderungen. ARCHI hat sich insbesondere für den Fortbestand des Werbeverbots starkgemacht – aus Angst vor einem Verlust von Werbeeinnahmen der eigenen Klientel. Strategisch galt für ANARCICH das Motto: Lieber den Spatzen in der Hand als die Taube auf dem Dach.
Bisher tummelten sich unter den radios de mínima cobertura auch viele kleine kommerzielle Stationen. Ein Ziel des Gesetzes war, diese aus dem reservierten Frequenzbereich herauszuhalten und tatsächlich nur Community-Radios zuzulassen. Doch hier schoss im Dezember die Behörde SUBTEL quer und verschickte an alle bisherigen kleinen Radios eine Anleitung, wie sie ihren Status an das neue Gesetz anpassen könnten. Das verstanden die kommerziellen Radios als Einladung, unter dem Deckmantel des Community-Radios die wertvollen reservierten Frequenzen zu nutzen. Alberto Cancino und Juan Ortega sind sich einig, dass das ein Skandal ist.
ANARCICH vertritt etwa 300 kleine Radios, die alle eine offizielle Lizenz haben. Juan Ortega von AMARC schätzt allerdings, dass höchstens 50 davon echte Community-Radios seien. Der Rest wären hauptsächlich evangelikale Sender oder Stationen von Gemeinderegierungen. Dagegen gebe es noch mindestens 100 weitere Community-Radios, die illegal sendeten. Das Radio der Universidad de Chile berichtet derweil, dass die kommerziellen Radios von ARCHI wieder Untersuchungen forcierten, um kleine Radios zu schließen, die entweder die strengen Auflagen nicht erfüllen oder gleich „illegal“ senden.
Alberto Cancino plädiert für Geduld: Man müsse abwarten, wie das Gesetz nun tatsächlich umgesetzt werde. Die skeptische Position von Juan Ortega wird hingegen von vielen RadiomacherInnen geteilt: „Mir scheint, dass man immer stärker versucht, unsere Community-Radios zum Schweigen zu bringen. Uns wird das gerade sehr deutlich anhand der Gesetze, die angeblich für uns gemacht werden“, beschwert sich María Cristina Riquelme vom Radio Nueva Era de Talca.
Im Vergleich zu Argentinien sind die Neuerungen in Chile sehr bescheiden. Im großen Nachbarland wurde 2009 ein umfassendes Mediengesetz verabschiedet, durch das für nicht-kommerzielle Medien ein Drittel des gesamten Frequenzbereiches reserviert wird, wo der Konzentration im kommerziellen Bereich durch niedrigere Besitzobergrenzen entgegengewirkt wird. Der größte Konzern, die Grupo Clarín, soll sogar gezwungen werden, Beteiligungen aufzugeben. Über den letzten Punkt streiten noch die Gerichte. Nicht zuletzt sind nun auch Community-Radios in den Regulierungsbehörden vertreten. Das ist bei der chilenischen SUBTEL nicht der Fall. Auch in Argentinien wurde das Gesetz maßgeblich von alternativen Medien formuliert, doch hat sich der kommerzielle Sektor komplett geweigert, in die Debatte einzusteigen. Mit ihrer Verweigerungshaltung haben die Privaten kaum Einfluss auf den Gesetzestext nehmen können – aus heutiger Sicht sicherlich ein Vorteil.
So schaut auch Juan Ortega etwas neidisch über die Anden. Für ihn erklärt sich der Erfolg in Argentinien vor allem aus der Tatsache, dass sich die Regierung dort gegen den großen Clarín-Konzern gestellt hat und damit ein neues Gesetz ermöglichte. Allerdings sind diesseits der Kordilleren auch die sozialen Bewegungen deutlich schwächer: „Die soziale Mobilisierung ist in Chile sehr prekär“. Die Pinochet-Diktatur und die nach 1990 folgenden neo­liberalen Regierungen haben zu einer deutlichen Schwächung des sozialen Gefüges geführt. Das gilt auch für die Community-Radios, die während der Übergangsphase Ende der 1980er bis Mitte der 1990er noch eine wichtige Rolle spielten. Das enge Korsett der Regulierung und die vielen Razzien haben die alternativen Medien in Chile klein gehalten. Dadurch schwindet die Sichtbarkeit der Radios, die einer politischen Tradition verpflichtet sind, während die Anzahl der Sender evangelikaler Kirchen steigt. Eine Verbindung der Menschenrechts-, Kommunikations-, Arbeitslosen- und verschiedener Stadtteilbewegungen wie in Argentinien ist in Chile nicht vorstellbar.
In der Diskussion über das neue Gesetz war und ist der Verweis auf die Nachbarländer bei den Regierungen Bachelet und Piñera wirkungslos. Auf der Basis-Ebene gibt es einen regen Austausch in der Region, unter anderem über AMARC. „Aber wenn wir zur Regierung gehen und über die Aufteilung des Frequenzspektrums reden, auf Argentinien und Uruguay verweisen, dann stoßen wir auf taube Ohren. Diese Argumente zählen nicht“, berichtet Juan Ortega. Eine Möglichkeit ist die Beschwerde vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Als Ortega dort vor Kurzem eine Studie vorstellte und aufzeigte, wie in Chile das von UNO und der Organisation Amerikanischer Staaten garantierte Recht auf demokratische Partizipation verletzt wird, zeigte sich die Regierung besorgt um ihr Ansehen. Ein Regierungsvertreter verteidigte das chilenische Gesetz als positiven Modellfall. Hier haben schließlich alle drei Akteure gemeinsam gehandelt: der Staat, die kommerziellen Medien und die Community-Radios. Dadurch seien Konflikte wie in Argentinien vermieden worden, so der Politiker.
Juan Ortega hält diesen Konflikt für unumgänglich, aber er erkennt letztlich auch die kleinen Fortschritte des Gesetzes an: Zum ersten Mal werden Community-Radios in ihrer sozialen und politischen Bedeutung für die Gemeinden und Stadtteile vom Gesetzgeber anerkannt. Vielleicht wird durch die schrittweisen umgesetzten Verbesserungen die Möglichkeit geschaffen, in Zukunft weitere Reformen im Mediensektor durchzusetzen. Die aktuelle Regierung hat sich jedoch kaum als Partner empfohlen.

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