Die Straße spricht
An die würdevolle Generation von 1968
Brüder und Schwestern,
Ich schreibe Euch im Namen der Männer, Frauen, Kinder und Alten des Zapatistischen Heeres zur Nationalen Befreiung, um Euch zu grüßen an diesem Tag, der an das Massaker von Tlatelolco erinnert, aber auch an die Bewegung, die vor 30 Jahren für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Mexikaner gekämpft hat.
68 ist nicht nur der 2. Oktober und das Leid auf dem Platz der drei Kulturen.
68 ist nicht nur dieser Platz, getränkt vom Blut dreier Kulturen, die der Tod vereint, der Tod, den ein Regime zu verantworten hat, das sich heute durch ähnliche Massaker an der Macht hält und erhält.
68 ist auch, ist vor allem, der Schweigemarsch, das Politechnische Institut, die UNAM. Hunderte von SchülerInnen und StudentInnen aus höheren Bildungseinrichtungen, die zu denen ganz unten blicken, die sich mit den Bauern des Dorfs Topilejo außerhalb der Stadt austauschen und vernetzen. 68 sind die Versammlungen, die bunt bemalten Mauern, die Brigaden, die Blitzdemos, sind die Straßen, die stürzten und sich wandelten, die neu eingekleidet wurden und ihre Würde zurückerhielten. Die Straße als Raum einer anderen Politik, einer Politik von unten, einer neuen, kämpferischen, rebellischen. Die Straße, die spricht, diskutiert, Autos und Ampeln zur Seite schiebt, die nach einem Platz in der Geschichte verlangt, einen Platz in der Geschichte fordert, um einen Platz in der Geschichte kämpft.
68 ist ein Fenster, durch das man den Zusammenprall zweier Formen sieht, Politik zu machen, zweier Formen, Mensch zu sein.
Oben, das Mexiko der Mächtigen. Derer, die mit Gewalt entscheiden und ihre Entscheidung mit Gewalt durchsetzen, die Monologe halten, deren Regierung auf Knüppeln und auf Lügen fußt.
Das Mexiko der PRI und der Militärs.
Das Mexiko derer, die nur vorgeben, für alle zu regieren.
Das Mexiko derer, die die Katastrophe verwalten, zum Nutzen weniger, zum Schaden vieler.
Das Mexiko der Verbrecher, die die Befehle gegeben haben, die auf den Abzug gedrückt haben, in Tlatelolco, in Acteal, in Chavajeval, in Union Progreso, in Aguas Blancas, El Charco.
Das Mexiko der von oben. Das Mexiko, das im Sterben liegt.
Unten, das Mexiko von 68.
Das Mexiko derer, die den Widerstand gelebt haben, gestorben sind, den Kampf für Gerechtigkeit ernst genommen haben, auf die einzige Weise, wie man ihn ernst nehmen kann: indem man ihn selbst lebt.
Das Mexiko derer, die nicht verbittert zusahen, wie die Jahre vorbeiziehen, ohne etwas zu tun. Derer, die aufgestanden sind, die stürzten. Die sich wieder, immer wieder, von neuem erheben.
Das Mexiko derer, für die die Forderung nach Gerechtigkeit sich nicht auf einzelne Tage im Jahr beschränkt. Für die Widerstand keine Jugendsünde ist, keine Krankheit, die die Zeit und das Alter heilen. Für die rebellisch zu sein keine Mode ist, nichts, das sich nur an der Länge der Haare eines Mannes misst, oder, mit umgekehrten Vorzeichen, an der Länge des Rockes einer Frau.
Das Mexiko derer, die keine Führungsgestalten sind noch je sein werden. Aber die zu Hause, bei der Arbeit, im Bus, im Taxi, auf dem Pferd, an der Maschine, in der Aula, in der Fabrik, in der Kirche, im Rollstuhl, im Autobus, am Pflug, beim Frisör, im Schönheitssalon, auf dem Traktor, im Flugzeug, in der Werkstatt, im Stand auf der Straße, auf dem Moped, auf dem Markt, im Krankenhaus, im Stadion, in der Arztpraxis, im Labor, im Kabarett, im Heim, am Schreibtisch, im Büro, in den Studios von Radio und Fernsehen, in den Bildhauerwerkstätten, in der Metro, auf dem Klo, in den Redaktionen, an der Ladentheke, auf dem Fahrrad, an irgendeinem Ort, in irgendeiner der Farben, die das Alltägliche und das Stille malen, die Hand heben, ein Bild, einen Laut, einen (Wahl)zettel, eine Faust, einen Gedanken, eine Stimme. Um sich den Lügen der Regierung zu widersetzen und zu sagen: Nein. Es reicht. Ich glaube euch nicht. Wir wollen etwas besseres. Wir brauchen etwas besseres. Wir verdienen etwas besseres.
Das Mexiko derer, die Nein sagten zur falschen Bequemlichkeit des sich Ergebens, derer, die mit kurzem oder langem Haar oder ganz ohne ihre Würde verteidigt, zurückgewonnen haben, ganz gleich, ob der Rock die Knie bedeckt oder nicht.
Das Mexiko derer, die 68 gelebt haben und gestorben sind, und die dabei geholfen haben, dass ein anderes Morgen das Licht der Welt erblickt, ein anderes Land, eine andere Erinnerung, eine andere Politik, eine andere Art, Mensch zu sein.
Das Mexiko der von unten. Das Mexiko, das leben wird.
Das Mexiko aller, die weitermachen, dazukommen, mehr werden, all der Menschen die, so verschieden, unterschiedlich, anders sie sind, denselben Kampf für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit führen, ganz gleich, was ihr Alter ist, ihr Geschlecht, die Farbe ihrer Haut, ihre Kultur, aus welcher Provinz sie stammen und von welchem Ort, welche Sprache sie sprechen, welchen Glaubens sie sind.
Das Mexiko derer, die gekämpft haben und kämpfen um besser zu sein, in der einzigen Form, in der man besser sein kann: indem man mit anderen, mit allen ist.
Sie alle. Die, die nachkommen. Die, die sich widersetzen. Die, die weitermachen. Jene, die, obgleich sie tot sind, 68 überlebt haben und die wir heute von dieser Seite sehen. Sie alle grüßen wir ZapatistInnen.
1968. 1998.
Damals und heute kommt die Lüge von oben, um die Wahrheit zu verbergen.
Damals und heute kommt die Wahrheit von unten, um die Wirklichkeit zu zeigen.
1968. 1998.
Die Wirklichkeit des Blutes, die den Platz tränkt.
Die Wirklichkeit des Autoritarismus, der zum Verbrechen führt.
1968. 1998.
Die Wirklichkeit der Toten und der Lebenden, die sich erinnern und die Erinnerung erhalten.
Die Wirklichkeit des Kampfes, der weitergeht.
Die Wirklichkeit des Morgens, der sich ankündigt, der kommen wird…
So sei es denn. Einen Gruß und was wir nicht vergessen dürfen: 30 Jahre später… setzen wir dieselben Kämpfe fort.
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens,
für das CCRI-CG, Subcomandante Insurgente Marcos