Film | Nummer 580/581 - Oktober/November 2022

DIE WELT IN FLAMMEN

Lateinamerika strahlt und gewinnt beim 70. San Sebastián Film Festival

Das Internationale Filmfestival im baskischen San Sebastián feierte in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag. Das Festival gehört zu den 15 großen, von der Föderation der Filmproduzent*innen (FIAPF) anerkannten internationalen Wettbewerbsfestivals. Seinem Ruf als Sprungbrett besonders für lateinamerikanischen Filmemacher
*innen wurde es auch dieses Jahr gerecht. Sozial und politisch engagierte Produktionen aus Lateinamerika prägten den Wettbewerb. Sie behandelten Themen wie Verlust, Einsamkeit, minderjährige Mütter, verletzte Männlichkeit, Kriminalität und Drogenkriege. Besonders im Fokus standen diesmal Filme über Teenager*innen. Folgerichtig gewann auch ein kolumbianischer Beitrag mit jugendlichen Protagonist
*innen den wichtigsten Preis des Festivals.

Von Jone Karres Azurmendi

Filme gucken am Meer Das Hafenbecken von San Sebastián (Foto: Jone Karres Azumendi)

Mitten im kolumbianischen Urwald springen nachts fünf Teenager wild auf einem Scheiterhaufen herum. Sie halten ihre Holzschwerter in die flimmernde Luft. Das lodernde Feuer um sie erinnert an die Apokalypse und man hört sie laut singen und schreien. Es ist ein Schrei der Befreiung, ein schonungsloser Blick auf eine Welt in Flammen.

Der Film Los Reyes del Mundo (Die Könige der Welt) von Laura Mora, aus dem diese Szene stammt, war das eindrücklichste Beispiel für den Zeitgeist des Festivals in diesem Jahr und gewann deshalb auch den Hauptpreis des Festivals: Die Goldene Muschel für den besten Film. In der kolumbianischen Koproduktion (mit Mexiko, Luxemburg, Frankreich und Norwegen) begeben sich fünf Straßenkinder auf eine Reise ins Hinterland von Medellín. Eines von ihnen möchte das Grundstück seiner Verwandten zurückerhalten, die im Zuge des Bürgerkriegs von Paramilitärs enteignet wurden. Die Jugendlichen wollen hier einen Neuanfang starten. Der Regisseurin ist ein beeindruckendes, dynamisches und bildgewaltiges Roadmovie mit Bezügen zum Dokumentarfilm gelungen. Die Pressekonferenz nach der Vorführung wurde fast zur Therapiestunde, als die Laiendarsteller*innen spontan aus ihrem Leben erzählten. Aus ihren emotionalen Statements klang heraus, dass sie in ihrem kurzen Leben schon viel mitgemacht haben. Bei den Dreharbeiten seien sie zur Familie zusammengewachsen, hätten Solidarität und Liebe erlebt. Diese Erfahrung habe ihnen gezeigt, dass nicht alles im Leben Gewalt sei. Es ist eine vom politischen Konflikt und den Folgen jahrzehntelanger Gewalt und Drogenkriege in Kolumbien gezeichnete traumatisierte Generation, die nun ihren Weg sucht. Wie bewegt und bewegend diese Suche ist, zeigte zuvor auch schon die Teenie-Dokumentation Alis, die bei der Berlinale 2022 mehrfach prämiert worden war (siehe LN 573).

San Sebastián und Lateinamerika, das ist eine besondere Verbindung. Für lateinamerikanische Produktionen ist das Filmfestival im mondänen Badeort an der Atlantikküste ein wichtiges Sprungbrett auf den Weltmarkt. Es dient neben dem Wettbewerb als Plattform für Koproduktionen, besonders mit europäischen Ländern. Viele Projekte finden im Entstehungsprozess hier die nötige finanzielle Unterstützung. Jährlich sind es 17 Projekte als “Work in Progress”. Viele davon werden später auf dem Festival gezeigt. Mit Horizontes gibt es sogar eine eigene Festivalsektion speziell für lateinamerikanische Filme.

Die kolumbianische Regisseurin Laura Mora hatte 2017 bereits ihren ersten Film Matar a Jesus in der Kategorie New Directors vorgestellt und kehrte nun mit dem Gewinnerfilm zurück. „Ich bin mit dem Filmfestival aufgewachsen. Für mich ist San Sebastián mein Zuhause”, sagte Mora sichtlich gerührt nach der Preisverleihung. Und Festivalleiter José Luis Rebordinos betonte: „Die lateinamerikanische Filmindustrie hat ein enormes Potenzial. Das nutzen wir, indem wir ihr eine Plattform bieten, um Projekte zu verwirklichen. Spanien und Lateinamerika haben viele Gemeinsamkeiten – nicht nur kulturell und emotional. Das Ergebnis sehen wir jährlich im Programm.” Und das hatte dieses Jahr noch weitere sehenswerte Beiträge im Angebot.

Eine ähnliche Thematik wie Los Reyes del Mundo behandelte La Jauría (Die Meute) von Andrés Ramírez (ebenfalls Kolumbien, Koproduktion mit Frankreich). In ungeschminkten Bildern zeigt der Film, wie ein Junge vom Land in eine experimentelle Jugendanstalt mitten im kolumbianischen Regenwald gebracht wird. Verurteilt wurde er für eine Straftat, die er vor Jahren mit seinem Kumpel begangen hatte. La Jauria ist ein roher Film, der nicht mit brutalen Szenen spart. Auch Ramírez zeigt Kolumbien als ein Land, in dem die Folgen der politischen Situation vor allem in den ärmsten Regionen sichtbar sind und in dem die Hemmschwelle zur Gewalt extrem niedrig ist.

An der Peripherie der Großstadt spielte auch der Wettbewerbsfilm El suplente (Der Aushilfslehrer) des Argentiniers Diego Lermann (Koproduktion Spanien, Frankreich, Mexiko, Italien). Er handelt von einem Literaturlehrer, der in einem verarmten Vorort von Buenos Aires als Aushilfskraft eingesetzt wird. Viele der Schüler sind konfliktiv und unmotiviert. Lucio setzt die befreiende Wirkung von Literatur dagegen. Er versucht, sie davon zu überzeugen, dass das geschriebene Wort die beste Waffe im Leben ist. Als er seinen Lieblingsschüler Dylan vor der Drogenmafia retten möchte, schwenkt die Geschichte in Richtung Thriller und erinnert etwas an den bekannten Hollywoodstreifen Dangerous Minds von John N. Smith aus dem Jahr 1995.

Ein Horizontes-Latinos-Publikumsfavorit war Mi país imaginario (Mein imaginäres Land), ein Dokumentarfilm von Patricio Guzmán. Der chilenische Altmeister Guzmán dokumentiert bereits seit den 1970er Jahren die politische Lage seines von politischen Umbrüchen geprägten Landes: So zum Beispiel den Sturz von Salvador Allende oder die Diktatur Pinochets.

Mi país imaginario ist erneut ein wichtiges Zeitdokument, da der Film die Ereignisse in Realzeit festhält. Als im Oktober 2019 unerwartet die sozialen Proteste des estallido social ausbrachen, ging Guzmán mit seinem Kamerateam auf die Straße. Über eine Million Jugendliche demonstrierten in der chilenischen Hauptstadt Santiago gegen politische Korruption, für mehr Demokratie und Bildung und ein besseres Gesundheitswesen, kurz gesagt, für würdige Lebensbedingungen. Der Film zeigt eine Jugend voller Wut und Frustration und ohne Angst, die nichts mehr zu verlieren hat, zur Gewalt als letztem Mittel greift und Polizist*innen mit Steinen bewirft. Ihr Schrei nach einer neuen Verfassung wurde, wie wir heute wissen, Anfang September zur großen Enttäuschung vieler Protestierender in einem Referendum mehrheitlich und parteiübergreifend abgelehnt. Diese letzte historische Wendung ist in Guzmáns Film, der bereits vorher fertiggestellt war, natürlich nicht mehr enthalten. Aber Chile befindet sich immer noch mitten im Prozess eines tiefgreifenden Wandels, was hoffen lässt, dass der chilenische Dokumentarfilmer eine Fortsetzung dieser spannenden Momentaufnahme plant und uns damit weiterhin fast in Echtzeit zu Zeitzeug*innen einer Revolution macht.

Eine weitere chilenische Produktion, die auf die Geschichte des Landes schaut, ist 1976, gedreht von der jungen Filmemacherin Manuela Martelli. Der Spielfilm begleitet Carmen, Ehefrau aus gut bürgerlicher Familie, die zunächst nichts mit dem politischem Geschehen in ihrem Land am Hut hat und sich am besten aus Allem heraushalten will. Sie führt ein harmonisches Leben und lässt ihr Strandhaus renovieren, bis sie eines Tages der Pfarrer um einen Gefallen bittet. Sie soll einen verletzten jungen Mann pflegen, der sich versteckt hält, davon aber niemandem erzählen. Als fromme Katholikin nimmt sie sich aus Nächstenliebe seiner an. Als sie nach und nach merkt, dass er kein Krimineller ist, beginnt sie eine neue Realität zu entdecken und ihr Umfeld mit neuen Augen zu sehen. Dazu betonte die Regisseurin „Meist stehen Politiker oder Aktivisten im Vordergrund. Ich habe bewusst die Geschichte einer unpolitischen, ganz normalen Frau erzählt.” Mit Spannung erwartet wurde auch der Spielfilm Argentina, 1985 von Santiago Mitre. Filmpremiere war auf dem Festival in Venedig. Das Drehbuch basiert auf der wahren Geschichte des Staatsanwalts Julio Strassera (grandios gespielt von Altmeister Ricardo Darín), der es schaffte, die blutigen Verbrechen der argentinischen Militärjunta zu erforschen und deren Generäle vor Gericht zu bringen. Sein Abschlussplädoyer ist in die Geschichte eingegangen und bekam auch im Kinosaal Standing Ovations.

Ein ganz anderes Thema behandelt Mitres Landsmann Manuel Abramovich mit dem Wettbewerbsfilm Pornomelancolía (Argentinien, Koproduktion mit Mexiko, Brasilien, Frankreich). Darin geht es um den mexikanischen Sex-Influencer Lalo, der eine Art Doppelleben führt: In seiner Freizeit spielt er in schwulen Pornofilmen mit, tagsüber arbeitet er in einer Fabrik. Zwischendurch postet Lalo Sexfotos in seinen sozialen Netzwerken. Der Film zeigt viele traurige Facetten eines Mannes, der am Rande der Depression lebt. Dabei muss er versuchen, mit seinem Dasein als Celebrity, aber auch mit seiner Verletzbarkeit im Privatleben klarzukommen. Der Film schneidet verschiedene aktuelle Themen an und stellt mexikanische (Männlichkeits-)Mythen wie den Machismo infrage. Der junge Regisseur Abramovich betont die Vielschichtigkeit der Geschichte: „Der Film handelt neben Rollenbildern auch von Einsamkeit und Verletzbarkeit. Ich versuche, meine eigene Filmsprache zu finden, um das darzustellen, was außerhalb der Norm, der Hegemonie passiert”. Pornomelancolía wurde in San Sebastián mit dem Preis für beste Kinematografie ausgezeichnet.

Last but not least ist auch der Dokumentarfilm El caso Padilla (Der Fall Padilla) von Pavel Giraud, eine spanisch-kubanische Koproduktion, sehr erwähnenswert. Der kubanische Dichter Herberto Padilla wurde 1971 von der Regierung inhaftiert und beschuldigte sich anschließend selbst. Dies bedeutete einen Bruch der intellektuellen Welt mit der Kubanischen Revolution. Der Regisseur hat damit ein Fenster zur Vergangenheit geöffnet, das einerseits Fragen aufwirft und andererseits Hinweise geben kann, um die gegenwärtige Situation des Landes zu verstehen.

Dass kurz nach Locarno (Regra 34, Brasilien) schon wieder ein lateinamerikanischer Film ein internationales A-Festival mit dem ersten Preis verließ, zeigt die Lebendigkeit und Innovation, aber auch die Relevanz, die das Kino des Subkontinents und seine oft jungen Regisseur*innen gewonnen haben. Auf die in vier Monaten beginnende Berlinale darf man sich angesichts dieses Vorlaufs sicherlich schon jetzt freuen. Schön wäre allerdings, wenn es lateinamerikanische Filmperlen auch öfter wieder in deutschen Kinosälen zu bewundern gäbe. Denn abseits der Festivals zögern viele Verleihe offensichtlich weiterhin, die Produktionen auch im regelmäßigen Kinobetrieb zu vermarkten.

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