Kolumbien | Nummer 462 - Dezember 2012

Die Worte einfach sprudeln lassen

Marylén Serna im Interview über einen partizipativen und transformativen Frieden in Kolumbien

Durch die Aufnahme der Gespräche zwischen der Regierung und der Guerillaorganisation FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) am 18. Oktober 2012 in Oslo gibt es neue Hoffnung auf ein Ende des Konfliktes. Die Möglichkeiten zur Mitwirkung Dritter sind begrenzt (siehe LN 461, Nov. 2012), jedoch lassen es sich die sozialen Bewegungen nicht nehmen, ihre eigenen Vorschläge für einen Friedensprozess zu entwickeln. Die LN sprachen mit Marylén Serna.

Interview: Fabian Singelnstein

Was ist die Position des Congreso de los Pueblos zu den Gesprächen zwischen Regierung und Guerilla?
Wir begrüßen die Aufnahme der Gespräche sehr, weil der Konflikt den sozialen Organisationen und der gesamten Gesellschaft heftigen Schaden zufügt hat. Nichtsdestotrotz fehlt die Einbeziehung der anderen Guerillaorganisation, der Nationalen Befreiungsarmee ELN. Außerdem bräuchten wir für die Zeit einen Waffenstillstand, aber die bewaffneten Auseinandersetzungen gehen weiter. Das ist kein günstiges Umfeld für den Frieden. Der Prozess wird nur voranschreiten, wenn die Gesellschaft ihn als notwendig betrachtet und unterstützt. Aber die Gespräche könnten zu einem Ende des bewaffneten Kampfes und zu einer zweiten Phase führen, in der man dann über die strukturellen Ursachen des Konfliktes reden könnte.

Das heißt, Sie akzeptieren die Gespräche, obwohl die Mitwirkungsmöglichkeiten eingeschränkt sind und eine umfassende sozialpolitische Agenda fehlt?
Die Überladung der Gespräche wäre kein Fortschritt für eine Verhandlungslösung, sondern würde das Verfahren komplizierter gestalten. Natürlich muss es nach diesen Gesprächen eine Phase der Beteiligung aller sozialer Akteure geben. Gegenwärtig fordern wir aber keinen Platz am Verhandlungstisch. Wir fordern jedoch die Voraussetzung und die Gelegenheit für eine Teilhabe der sozialen Bewegungen sowie den politischen Willen uns zuzuhören.

Ist die Gesellschaft nicht kriegsmüde und will nur ein schnelles Ende des Konfliktes?
Die Menschen sind erschöpft. Aber es gibt tieferliegende Konfliktursachen, die für einen dauerhaften Frieden behandelt werden müssen. Deshalb wollen wir die Kämpfe der sozialen Bewegungen für Gesundheit, Bildung und Land, die eben auch Kämpfe für den Frieden sind, in diesen Prozess einfließen lassen. Wir begnügen uns nicht damit, schriftliche Vorschläge einzureichen, sondern fordern die Regierung und Guerilla auf, den Bewegungen eine Hauptrolle einzuräumen. Das wird schwierig und deshalb ist die Stärkung der Friedensbewegung grundlegend.

Welche Vorschläge haben Sie im Congreso de los Pueblos, um den Friedensprozess voranzutreiben?
Bereits 2010 bei der Gründung des „Congreso de los Pueblos“ fiel der Entschluss, einen Kongress für den Frieden abzuhalten. Durch die Ankündigung der Gespräche gewann diese Idee an Kraft und Dynamik. Wir schlagen vor, die breite Öffentlichkeit auf nationaler Ebene in die Friedensverhandlungen mit einzubeziehen. Dies soll mit einer Methode passieren, nach der sowohl inhaltliche Vorschläge als auch Erfahrungen der vielfältigen lokalen Initiativen mit integralen Friedensansätzen verknüpft werden. Ziel ist die Ausarbeitung eines gemeinsamen Programms. Das ist natürlich eine mühsame Aufgabe. Es geht nicht nur darum, Vereinbarungen darüber zu treffen, wie beispielsweise Entscheidungen delegiert und Vertreter bestimmt werden, sondern auch, wie wir unsere Forderung nach der Teilnahme am Friedensprozess überhaupt durchsetzen können.

Wie funktioniert die Methode des Congreso de los Pueblos genau?
Unsere Methode besteht aus drei Schritten. Zuerst rufen wir die Menschen zusammen und sammeln ihre Ideen. Diesen Prozess bezeichnen wir als caminar la palabra (das Wort wandert). Danach beginnen wir mit der Legislación Popular (Gesetzgebung von unten). Das bedeutet, Erfahrungen und kollektive Praktiken der Bevölkerung wie die lokalen Entwicklungspläne werden aufgenommen, um daraus ein Mandat zu formulieren. Zum Schluss führen wir im Schritt Agenda de los Pueblos (Agenda der Völker) die verschiedenen Aktionen zusammen. Denn trotz Verfolgung und Repression, leisten die sozialen Bewegungen weiterhin Widerstand, jedoch vereinzelt und zerstreut. Eine gemeinsame Agenda bedeutet nicht, alle ohne Unterschied in einen Topf zu werfen, sondern einen Konsens über bestimmte gemeinsame Aktionen zu finden. Dieses Vorgehen schlagen wir auch für den Friedenskongress vor. Zurzeit befinden wir uns in der ersten Phase, halten also lokale Versammlungen ab und führen Debatten.

Eine Ihrer Forderungen ist die eines „transformativen Frieden“? Was steht dahinter?
Die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Der Konflikt in Kolumbien kann nicht isoliert von der sozialen Realität der Bevölkerung betrachtet werden. Er ist auch eine Folge von sozialer Ungerechtigkeit und der Kluft zwischen der wirtschaftlichen und politischen Elite und der breiten Mehrheit. Diese Bedingungen müssen verändert werden, und zwar mit aktiver Beteiligung der Bevölkerung. Da sich die Lebensbedingungen durch den Konflikt weiter verschärfen, fühlt sich die Bevölkerung nicht durch die Konfliktparteien repräsentiert.

Gibt es im Gegensatz zu den Friedensgesprächen in Caguán von 1998-2002 heute eine stärkere Beteiligung der sozialen Organisationen?
Es gibt ein Wiedererstarken der sozialen Bewegungen. Wir wollen gehört werden und nicht alles an andere delegieren. Ausdruck dessen waren 2011 die Versammlung in Barrancabermeja oder auch der Congreso de Pueblos zum Thema Land und Territorium. Dort war die Diskussion zum Frieden sehr präsent. Schließlich wurde im August diesen Jahres im Cauca die Ruta Social Común para la Paz (gemeinsamer sozialer Friedenspfad) beschlossen, um der Teilhabe der sozialen Bewegungen eine Struktur zu geben und an der sozialen Agenda des Friedensprozesses zu arbeiten. In der Comosocol (Nationale Koordination der sozialen Bewegungen und Organisationen Kolumbiens) streben die sozialen Bewegungen außerdem seit zwei Jahren eine stärkere Einheit an. Zu Beginn der Friedensgespräche in Oslo riefen sie zu einer Semana de Indignación (Woche der Empörung) auf.

Welche Gefahren und Herausforderungen sehen Sie für die Friedensbewegung in Kolumbien?
Eine der größten Herausforderungen ist es, einen Weg zu finden, wie die sozialen Bewegungen trotz unterschiedlicher Positionen und ihrer Zersplitterung gemeinsam am Friedensprozess teilnehmen können. Außerdem gibt es bislang keine klare Perspektive, wie die strukturellen Ursachen des Konfliktes behandelt werden, da das die Regierung ausdrücklich ausgeschlossen hat. Eine weitere Schwierigkeit sind die fehlenden Sicherheitsgarantien. Der Paramilitarismus existiert weiter, hat aber neue Formen angenommen. Damit verändert sich auch der Angriff auf die sozialen Bewegungen. Neben der gewaltsamen Verfolgung tritt zunehmend eine subtile Repression in Erscheinung. Sie äußert sich im Aufbau von Konkurrenzstrukturen zu den sozialen Organisationen oder durch die Kooptation durch vorgebliche Partizipationsmechanismen.

Wie ist die Situation der sozialen Bewegungen im Cauca?
Die indigene Bevölkerung im Cauca verteidigt seit langem ihre territoriale Autonomie und hat dafür die Guardia indígena (indigene Wache) aufgebaut. Dies wird von den Konfliktparteien jedoch nicht respektiert. Sowohl das Militär als auch die FARC-Guerilla oder Paramilitärs üben Einfluss in ihrem Territorium aus, was sich durch die Aktivität multinationaler Unternehmen verschärft. Nichtsdestotrotz hat die Guardia im Juli sowohl Soldaten als auch Guerilleros unbewaffnet konfrontiert und aus ihrem Gebiet geworfen. Für diese Aktionen gegen das Militär wurden die indigenen Gemeinden heftig in der Öffentlichkeit kritisiert. Zurzeit führen sie dazu Verhandlungen mit der Regierung, kontrollieren ihr Territorium aber weiterhin. Aber natürlich geht auch die Auseinandersetzung zwischen Armee und Guerilla weiter, mit Toten in der Bevölkerung und der Zerstörung der Gemeindeinfrastruktur.

Und bei der Bauernbewegung in Cajibío?
Bei uns ist der Landkonflikt die Hauptsorge. Vor allem die extensiven Forstwirtschaftsprojekte des multinationalen Unternehmens Smurfit Kappa, begleitet durch eine starke Militärpräsenz zu dessen Schutz. Dagegen wehren wir uns, weshalb wir bedroht wurden. Gerade sind wir dabei analog zu den indigenen Gemeinden eine Guardia campesina (bäuerliche Wächter) zu gründen. Das geschieht zum einen aus Notwendigkeit, denn wir sind nicht bereit, unsere Angelegenheit in die Hände der bewaffneten Akteure zu legen. Zum anderen ist es eine Umsetzung des Mandats des Congreso de los Pueblos. Die Guardias verteidigen die territoriale Autonomie, mobilisieren die Bevölkerung und drängen den Einfluss der Konfliktparteien zurück. Für diese sensible Aufgabe inmitten des Konfliktes durchlaufen sie eine intensive politische Schulung, da immer auch ihr ziviler Charakter gewahrt werden muss.

Was erwartet der Congreso de los Pueblos an internationaler Solidarität?
Für eine Verhandlungslösung muss der Friedensprozess international begleitet und gestützt werden. Die internationale Gemeinschaft sollte außerdem die aktive Teilhabe der Bevölkerung und der sozialen Bewegungen bei der Regierung und den Guerillas einfordern. Es wäre auch wünschenswert, wenn die partizipativen Anstrengungen der sozialen Bewegungen unterstützt würden. Vom Congreso de los Pueblos laden wir zur Teilnahme am Friedenskongress im März 2013 ein, damit es auch möglich wird, persönlich präsent zu sein.

Wie verhält es sich mit den europäischen Regierungen und der EU? Schließlich haben sie ein Freihandelsabkommen mit der kolumbianischen Regierung abgeschlossen?
Die kolumbianische Regierung braucht ein Ende des Konfliktes. Für seine internationalen Wirtschaftsverpflichtungen zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, das Inkrafttreten der Freihandelsabkommen und die Sicherheit ausländischer Unternehmen ist der Konflikt mehr denn je ein Hindernis. Das erschwert natürlich auch den internationalen Beitrag für einen dauerhaften Frieden in Kolumbien. Gegenwärtig hieße ein aktives Friedensengagement der europäischen Regierungen, das Abkommen aufzukündigen, sofern sie den Forderungen nach Frieden mit sozialer Gerechtigkeit nicht widersprechen wollen.

Infokasten:

Marylén Serna

von der Bäuerinnen- und Bauernbewegung in Cajibío im kolumbianischen Department Cauca ist Sprecherin der basisdemokratischen „Minga de Resistencia Social y Comunitaria“, einer Allianz der sozialen Bewegungen Kolumbiens, die sich 2008 nach heftigen Protesten der indigenen Bevölkerung gründete.
Zum Aufbau einer Regierung von unten berief die Minga 2010 den ersten zivilgesellschaftlichen Congreso de los Pueblos ein. Seither tagt dieser zu Kerninhalten der sozialen Bewegungen, so 2011 zu „Territorium, Land und Souveränität“. Im März 2013 wird er das Thema „Frieden“ behandeln.

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