Drei Millionen Fußballtrainer
Eduardo Galeanos Betrachtungen über Uruguay und die Kunst des Balltretens
Die Plätze sind rar: ohne Reservierung kommt man in diese Veranstaltung nicht rein. Die Berliner Latinoszene ist kaum zu sehen. Dafür wird schon vor dem Einlass lebhaft über einen Lateinamerikaner debattiert. Der heißt Luizao und ist Angestellter des Berliner Bundesligisten Hertha BSC. Gerade vor zehn Minuten hat er -das weiß ein junger Mann unter den Wartenden -ein Tor im Pokalspiel gegen Hansa Rostock erzielt. Ein eleganter Herr im blauen Lodenmantel verliert die Geduld, als er an der Kasse aufgefordert wird, seinen Namen zu wiederholen, bevor er seine Eintrittskarte erhält: „Also hör ma zu: Ick bin vom Berliner band, wir ham die Veranstaltung mit 3000 Euro jesponsort, weeste? Ohne uns würde hier jar nischt loofen!”
Vereinsfunktionäre, Sportjournalisten und Fußballfans sind gekommen -ein etwas untypisches Publikum für einen Vordenker der Linken in Lateinamerika. Aber an diesem Abend ist selbst der Veranstaltungsort ein Fußball. Den ließ der österreichische Aktionskünstler Andre Heller im Hinblick auf die Weltmeisterschaft 2006 für eine Veranstaltungsreihe aufstellen, in der es natürlich auch um Fußball geht: so soll Galeano heute aus seinem bereits 1995 veröffentlichten Werk Der Ball ist rund und Toren lauern überall lesen. Die Liste jener Schriftsteller und Filmemacher, die bereits vor Galeano im Fußballglobus auftraten, deutet auf die Inszenierung eines Heldenepos hin: Sönke Wortmann war da, mit seinem Filmopus über die Helden von Bern verantwortlich für Kanzlertränen, und Wladimir Kaminer, Verfasser der Erzählungen Helden des Alltags, hatte ebenso gelesen wie Thomas Brussig, Autor des Romans Helden wie wir. In Galeanos Buch werden weitere Helden gepriesen: Zum Beispiel Franz Beckenbauer, ein „Edelmannn, dem in der Verteidigung „weder Mücken noch Fliegen entkamen”, und der wie ein Feuersturm über das Spielfeld raste”. Oder Diego Armando Maradona, dessen „Zauberkünste den Platz elektrisierten”, der „Augen am ganzen Körper” besaß und „Spiele ent-scheiden konnte, auch wenn ihn Tausende gegnerischer Beine umgaben”. Oder auch Romario de Souza, der „in einem funkensprühenden Feuerwerk seine Tore wie Prankenhiebe setzte”.
Bank mit Kühen davor
An diesem Tage spricht und liest der Schriftsteller indes nicht über Helden. Dafür kommt der politische Kommentator Galeano zum Zug, als der Moderator das Ende zweier deutscher wunder beklagt: das des Wirtschaftswunders und des Fußballs. Galeanos Heimatland Uruguay, mit nur drei Millionen Einwohnern einst als Schweiz Südamerikas bekannt und in den Jahren. 1930 und 1950 zweimal Fußballweltmeister, leidet unter den gleichen Problemen. Der Schriftsteller erklärt: In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sei die Wirtschaft in seinem Land noch produktiv gewesen, der Staat habe viel in Bildung investiert, auch in physische Erziehung. Heute dagegen hätten Staat und Fußball ihre kreative Kraft verloren. Uruguay sei zu einer Bank mit Blick aufs Meer und ein paar Kühen davor degeneriert. So beschreibt er die Tatsache, dass Montevideo zunächst zu einer der wichtigsten Finanzmetropolen Lateinamerikas aufgestiegen war, anschließend viele Banken -zum großen Teil aufgrund kriminellen Managements -in den Bankrott getrieben wurden, und schließlich der internationale Währungsfonds auf Kosten der Bevölkerung Milliardensummen ins Land pumpte, um den platz zu retten. Galeano: „Die Verantwortlichen haben es versäumt, Brecht zu lesen. Sie wissen daher nicht, dass es ein größeres Delikt gibt als einen Bankraub, nämlich die Eröffnung einer Bank.”
Sein Fazit: „Uruguay ist ein kaputtes, ein trauriges Land.” Er erzählt von dramatischen Abschiedsszene auf dem Flughafen in Montevideo. Die Menschen suchten Arbeit im Ausland. Denn heute, so Galeano, exportiert Uruguay hauptsächlich Arbeitskräfte, auf spanisch „Arbeitshände“genannt. Und natürlich „Arbeitsfüße“, sprich Ballartisten. Der Trost: Drei Millionen Fußballtrainer im Land, die über einen Doktortitel in Ballwissenschaften verfügen, kennen sechs Millionen Rezepte, um aus der Krise zu kommen.” Aus der Fußballkrise, versteht sich. Das Beispiel Uruguay zeigt: Während einer wirtschaftlichen Hausse entwickelt sich auch die Kunst des Ballzauberns besser. Aber umgekehrt? Wohl kaum. Bleibt nur die Hoffnung. Sie ist für Galeano die Energie, die hilft, wieder aufzustehen, wenn man hinfällt. Der Fußballspieler hat sie von Natur aus. Die uruguayischen Balltreter könnten also im Jahre 2006 der Welt zeigen, dass es für das Land noch Hoffnung gibt.
Verhaltener Beifall, obwohl Galeano mehr verdient hätte. Es scheint so, als wollte das Publikum weniger über die desolate wirtschaftliche Situation in Uruguay hören, als vielmehr Geschichten vom Ball. Der Schriftsteller bemerkt, dass dies kein Heimspiel für ihn ist. Also liest er über das „Schauspiel Fußball”, inzwischen „eines der besten Geschäfte der Welt, das nicht stattfindet, damit gespielt wird, sondern um zu verhindern, dass gespielt wird.” Die Technokraten des Sports, urteilt Galeano, haben einen Fußball der Schnelligkeit und Kraft durchgesetzt, der auf Freude verzichtet, die Phantasie ver-kümmern lässt und den Mut zum Risiko verbietet. Das schließt aber nicht aus, dass der eine oder andere Lausejunge das Drehbuch vergisst und trotzdem die gegnerische Mannschaft ausdribbelt. Zum Schluss verteilt der Schriftsteller Bonbons an sein Publikum: Gerade Beckenbauer, der deutsche, im Arbeiterviertel geborene Kaiser, habe die Tendenz zum Kraftfußball im Stile einer Panzerdivision durch-brachen. Er hätte gezeigt, dass Eleganz mächtiger sein kann als ein Panzer und Feinsinnigkeit durchschlagender als eine Granate. Nun hat er sie endlich -die Anerkennung der Vereinsfunktionäre und Sportjournalisten. Der Schlussapplaus für den Gast aus Uruguay fällt deutlich kräftiger aus, obwohl doch gerade der deutsche Fußball häufig mit einer zerdivision verglichen wird. Galeano selbst klatscht mit. Seine Lesung hat ihm gefallen.
Rolf Schröder