Drogenhandel gilt als normale Arbeit
Ein Interview mit Luis Astorga, Forscher am Institut für Sozialforschung der Universidad Autónoma de México und Experte auf dem Gebiet der Drogenkultur
Sind die narcocorridos die Stimme des Volkes, die mit dem offiziellen Diskurs über den Drogenhandel kollidiert?
Ja. Vergleicht man die Version der mexikanischen oder der US-amerikanischen Regierung mit dem Großteil der corridos über den Drogenhandel und die Schmuggler, so haben sie eine radikal entgegengesetzte Botschaft. Die einen erzählen die Ereignisse aus der Sicht der politischen Macht, die andere Seite erzählt eine Version, die sich der Sicht der Drogenhändler annähert. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurde das Monopol des legitimen Diskurses über den Drogenhandel gebrochen. Und obwohl es auch Musiker gibt, die die Geschichten von Militärs und Polizist erzählen, so nehmen doch die meisten die Perspektive der Drogenhändler ein, denn die sind auch Leute aus dem Volk, genau wie die Komponist dieser corridos. Sie entstammen denselben sozialen Schichten und teilen viele kulturelle Codes. Und dann ist da die physische Nähe zu den Drogenhändler, denn einige stammen aus den Regionen, in denen Drogen angebaut werden. Sie sind sehr viel näher an den Menschen, die sich dem Drogengeschäft in seiner ganzen Breite widmen, als zum Beispiel ein Funktionär im Sekretariat der nationalen Sicherheit oder im Justizapparat der Republik.
Wie unterscheidet sich das Bild des Drogenhändlers in den Liedern vom offiziellen Diskurs?
Es handelt sich ja um etwas Ungesetzliches und es werden allen, die mit dem Anbau, dem Vertrieb oder dem Konsum dieser verbotenen Substanzen im Zusammenhang stehen, eine Reihe negativer Eigenschaften zugeschrieben. In den corridos ist es genau umgekehrt. Die Personen des Drogengeschäfts sowie die Drogen selbst werden häufig mystifiziert. Die corridos enthalten ethische Codes, die denen der Drogenhändler ähnlich sind und die im Widerspruch stehen zu den ethischen Codes, die die Regierung vertritt. Sie sehen die Drogenhändler nicht als Kriminelle und Gesetzesbrecher, sondern als Menschen, die einer würdevollen Arbeit nachgehen wie jede/r andere auch. Zum Beispiel sind sie die „amigos de los amigos“, die Freunde der Freunde, sie sind sehr mutig, sie sind geachtete Persönlichkeiten, und ihre Feinde sind die Repräsentanten des Gesetzes.
Was halten Sie von den Bemühungen um das Sendeverbot von narcocorridos im öffentlichen Radio?
Die Entscheidung zur Zensur ist sehr kompliziert und hat damit zu tun, ob man von Seiten der Staatsmacht an dem Recht auf freie Meinungsäußerung rütteln will. Wenn man beginnt, diese Art Musik zu zensieren, woher wissen wir dann, dass das nicht weitergeht mit Fernsehen, Radio, Filmen, Büchern? Dort ist, was an den corridos kritisiert wird, nämlich die Gewalt, auch präsent und oftmals auf viel drastischere Weise. Und das Argument der Gegner dieser Musik, dass die corridos die Moral der Menschen zerstören, ist auch ein absurdes Argument. Da könnte man ja nur noch gregorianische
Gesänge oder Kinderlieder im Radio senden. Das ist also absurd.
Und warum hat Ihrer Meinung nach diese Musik soviel Erfolg?
Weil die Menschen an das Phänomen des Drogenhandels und die Leute, die damit ihr Geld verdienen, gewöhnt sind. Und sie wissen, dass die Kette der Korruption sehr lang ist. Also, so ist der Gedankengang dieser Menschen, warum sollen wir dem glauben, was die Autoritäten sagen, wenn wir wissen, dass viele dieser Autoritäten die Drogenbosse in Schutz nehmen? Warum sollen wir nicht an andere Versionen glauben, wenn wir aus Erfahrung wissen, dass Politiker sie decken, Militärs, Polizisten und Unternehmer Geld waschen, Architekten ihnen ihre Häuser bauen, Buchhalter ihre Geschäftsbücher führen, Anwälte sie verteidigen? Wenn wir im wirklichen Leben sehen, dass die Repräsentanten des Gesetzes selbst in das Drogengeschäft involviert sind?