Jugend | Nummer 303/304 - Sept./Okt. 1999

Dynamisch, sportlich, schön

Lateinamerikanische Jugendlichen haben mit anderen Problemen zu kämpfen als Gleichaltrige in Europa

Gibt es eine Jugend? Und gibt es sie in Lateinamerika? Anstatt sich auf die zweite Frage zu beschränken, versucht der vorliegende Artikel zuerst, den Begriff der „Jugend“ selbst in den Blick zu nehmen.

Markus Müller

Im Zuge der postkolonialen Kritik an der Allgemeingültigkeit des Modernisierungsparadigmas muß auch der in den bürgerlichen Gesellschaften Europas entstandene Jugendbegriff hinterfragt werden. Seiner Definition zufolge zeichnet sich Jugend durch bestimmte Eigenschaften aus. Zum einen wird der Jugend ein sogenanntes soziales Moratorium zugebilligt. Den Jugendlichen wird eine Art Galgenfrist eingeräumt, innerhalb der sie noch nicht die vollen gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen eingehen müssen. Darüberhinaus wird diese Zeit als mit positiven Werten besetzter Lebensabschnitt, ja als Privileg idealisiert. Jugend ist dynamisch, sportlich und schön. Im Gegenzug müssen sich die Jugendlichen vor allem um ihre Bildung kümmern, um sich und der Gesellschaft eine Zukunftsperspektive bieten zu können. Nicht umsonst wird der Jugend gerne die Verantwortung für einen wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Fortschritt aufgebürdet. Schließlich beansprucht dieser Jugendbegriff allgemeine Gültigkeit. Für alle Menschen im Jugendalter, das heißt von 15-25 Jahren, soll dieses Modell durchgesetzt werden. Daß das Modell in den europäisch geprägten Industriestaaten in die Krise geraten ist, zeigen die Konflikte, mit denen sich ihre Jugendlichen heutzutage auseinanderzusetzen haben: Selbst immer noch mehr Bildung an den überfüllten Massenuniversitäten bietet keine sichere Zukunftsperspektive mehr. Aber nicht nur diese Krise zeigt, daß die unkritische Übertragung dieses Jugendbegriffs den lateinamerikanischen Gesellschaften nicht gerecht wird. Stattdessen ist es notwendig, die spezifischen Probleme der lateinamerikanischen Jugend als Realität anzuerkennen und zu entziffern.

Bildungsproblem statt Rentenproblem

Rentenprobleme, so sollte man meinen, wird Lateinamerika in nächster Zukunft nicht haben. Und wenn dies doch der Fall sein sollte, so liegt dies bestimmt nicht am Mangel von Heranwachsenden, die die Renten finanzieren könnten. Denn diese Altersgruppe macht im kontinentalen Durchschnitt ungefähr ein Viertel der Bevölkerung aus, in manchen Ländern sogar bis zu 50 Prozent. Die Jugend stellt in Lateinamerika einen Faktor dar, mit dem zu rechnen ist. Und das haben sie auch getan, die Heerscharen von Statistikern, Soziologen und Politikern. Und was haben sie vorgefunden: mangelnde Bildung, Arbeitslosigkeit, zerrütete Familien und Gewalt, lauter Defizite also. Jugend wird so auf einen bemitleidenswerten Haufen von Menschen reduziert, dem unbedingt geholfen werden muß. Motor soll dabei die Modernisierung sein, die den jeweiligen Ländern, und damit auch ihrer Jugend, Entwicklung verspricht.
Die Bildungspolitik der lateinamerikanischen Regierungen ist allerdings in erster Linie auf die Jugend der städtischen Mittelschichten zugeschnitten und geht an den Bedürfnissen der Jugend aus den unterprivilegierten Schichten, der sogennanten juventud popular, vollkommen vorbei. In Mexiko zum Beispiel wurde zwar traditionell viel Geld in den Ausbau des staatlichen Hochschulwesens investiert – wobei auch die Zeiten heute vorbei sind (siehe Artikel von Jens Kaffenberger) – aber ein Berufsausbildungssystem, das mit dem deutschen dualen System vergleichbar wäre und das Jugendlichen eine Weiterbildung bei gleichzeitiger Erwerbstätigkeit ermöglicht, ist dort nicht einmal in Ansätzen zu erkennen.
Ein großer Teil der juventud popular muß sich mit gegenwartsbezogenen Existenzkonflikten herumschlagen. Schon früh sind sie für ihren Lebensunterhalt selbst verantwortlich und müssen häufig zum Unterhalt ihrer Familie beitragen. Einige von ihnen haben bereits mit 15 eine eigene Familie. Auf dem Land arbeiten sie in der Subsistenzwirtschaft, aber immer öfter auch in handwerklichen Berufen. In den Städten bietet ihnen oft nur der informelle Sektor die Möglichkeit, sei es als Kugelschreiberverkäuferin in der U-Bahn, sei es als Feuerschlucker auf der Straße, ein Auskommen zu finden. Für einen regelmäßigen Schulbesuch bleibt da meist keine Zeit, und gesellschaftliche Anerkennung wird ihnen nicht zuletzt deswegen verweigert. Anstatt Träger von Modernisierung zu sein, wird die juventud popular in Lateinamerika durch diesen Prozeß weiter marginalisiert. Dies bedeutet jedoch nicht, daß mit den Jugendlichen bei dem durchaus notwendigen gesellschaftlichen Wandel nicht zu rechnen ist. Ganz im Gegenteil. Wie sonst soll die Tatsache verstanden werden, daß Rebellenbewegungen wie zum Beispiel die Zapatisten in Mexiko vor allem bei den Jugendlichen so hoch im Kurs stehen.

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