Mexiko | Nummer 497 - November 2015

Ein Jahr Ayotzinapa, ein Jahr Straflosigkeit

Zum Jahrestag der verschwundenen Studenten bezweifelt ein internationaler Untersuchungsbericht die staatlichen Ermittlungsergebnisse

Gedenkveranstaltungen und Protestaktionen in ganz Mexiko erinnern an die Ermordung und Massenentführung von Studenten im Bundesstaat Guerrero und fordern ernsthafte Aufklärung von der Regierung. Unterstützung erhalten sie dabei durch den kürzlich veröffentlichten Untersuchungsbericht einer internationalen Expert*innenkommission. Dieser verweist zudem auf die Rolle der Armee in dem Fall.

Aldo Rabiela Beretta, Übersetzung: Rosi Bringmann

Der Schmerz lässt nicht nach – ebenso wenig die Wut. Am 26. September jährte sich zum ersten Mal die Horrornacht von Iguala im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero, in der sechs Menschen ermordet, 40 verletzt und 43 Lehramtsstudenten von der Polizei verschleppt wurden (siehe LN 485). Die Angehörigen und Kommilitonen der Opfer suchen weiterhin nach den Vermissten und fordern Aufklärung. Im ganzen Land kam es rund um den Jahrestag zu Gedenkveranstaltungen und Protestaktionen gegen die Regierung. Die „verschwundenen“ 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa sind zum Symbol dafür geworden, wie die staatlichen Institutionen Mexikos nicht nur in schwerste Verbrechen verstrickt, sondern direkt für diese verantwortlich sind. Der „Fall Ayotzinapa“ war eben nicht möglich, weil der Staat die Kontrolle in bestimmten Regionen an Drogenkartelle verloren hätte oder da die lokale Polizei von diesen unterwandert wäre – im Gegenteil. Es handelt sich vielmehr um ein Verbrechen, an dem die Armee sowie die lokale, Landes- und Bundespolizei aktiv beteiligt war.
Dies bringt der Untersuchungsbericht hervor, den eine Expert*innengruppe im Auftrag der Inter­amerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) am 6. September vorgestellt hatte. Auf Ersuchen der Familienangehörigen der Lehramtsstudenten, die keinerlei Vertrauen mehr in die mexikanischen Behörden haben, hatten die mexikanischen Menschenrechtsorganisationen Tlachinollan, Centro Prodh und Serapaz die Unterstützung seitens der CIDH beantragt. Daraufhin wurde am 12. November 2014 ein Abkommen über die Zusammenarbeit bei den Ermittlungen zu dem gewaltsamen Verschwindenlassens im Fall Ayotzinapa zwischen CIDH und der mexikanischen Regierung unterzeichnet. Die dazu gegründete Interdisziplinäre Gruppe Unabhängiger Experten (GIEI) sollte Pläne zum Auffinden der verschwundenen Personen erarbeiten sowie untersuchen, wie der Staat seine Aufklärungspflicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für die Tat wahrnimmt und die Opferfamilien unterstützt. Eine weitere Aufgabe war die Ausarbeitung von Empfehlungen an den mexikanischen Staat angesichts des „Verschwindenlassens“ von Menschen in Mexiko.
Das Misstrauen der Opferangehörigen findet Bestätigung durch den nun vorgestellten Untersuchungsbericht, denn dessen Schlussfolgerungen ziehen die offiziellen Ermittlungsergebnisse erheblich in Zweifel. Der mehr als 500 Seiten umfassende Bericht legt nahe, dass es sich bei den vor einem Jahr in den Städten Iguala begangenen Delikten um Staatsverbrechen handelt. Denn die direkte bzw. indirekte Beteiligung von Einheiten der lokalen, Landes- und Bundespolizei ist laut Bericht sehr wahrscheinlich. Diese Ergebnisse alleine stellen schon die offizielle Version infrage, die die Problematik gezielt auf ein Thema der Korrumpierung von lokalen Polizist*innen und Politiker*innen, die in Drogengeschäfte verstrickt sind, reduziert.
Darüber hinaus zerpflückt der Expert*innenbericht die offiziellen Untersuchungsergebnisse – vom inzwischen zurückgetretenen Generalbundesstaatsanwalt Jesús Murillo Karam als „historische Wahrheit“ bezeichnet – mit denen die mexikanische Regierung im Januar 2015 den Fall für abgeschlossen erklären wollte. Laut dieser lässt sich das Verbrechen in zwei Phasen unterteilen, für die jeweils unterschiedliche Akteure verantwortlich und voneinander abzugrenzen seien. In der ersten Phase verfolgten, umzingelten und beschossen die städti­schen Polizeikräfte Studenten und unbewaffnete Bürger*innen, nahmen die Studenten fest und übergaben sie schließlich der lokalen Drogenbande „Guerreros Unidos“. Bei der zweiten Phase waren keine Polizeikräfte oder andere staatliche Akteure mehr beteiligt, sondern Mitglieder von „Guerreros Unidos“ sollen die 43 Studenten ermordet, auf einer Mülldeponie bei Cocula (unweit von Iguala) verbrannt und die Asche in den Fluss geworfen haben.
Die Argumentation der mexikanischen Regierung, nach der es keine Verantwortung der Regierung gebe, basiert auf dieser Aufsplittung der Tat in zwei Phasen. Mit anderen Worten: Es wird zugegeben, dass Mitglieder der städtischen Polizei an dem Verschwindenlassen der Studenten beteiligt waren, die Hinrichtung und Verbrennung seien jedoch von Killern des Drogenkartells durchgeführt worden.
Als ein Tatmotiv für die Morde vermutet die Regierung, dass die Killer der Guerreros Unidos die Studenten irrtümlicherweise für Angehörige einer rivalisierenden Drogenbande hielten. Als zweites Motiv komme in Frage, dass der Bürgermeister von Iguala und dessen Frau (die nach ihrer Flucht im November 2014 festgenommen wurden), die Morde als Bestrafungsaktion gegen die rebellischen Studenten in Auftrag gegeben hätten. In beiden Fällen wird das Verbrechen reduziert auf ein lokales Problem, das in den Verknüpfungen zwischen lokaler Polizei, dem Bürgermeister und der Drogenmafia wurzelt. Dies stimmt mit der ersten Reaktion der mexikanischen Regierung im September 2014 überein, als sie den Fall Ayotzinapa als ein rein lokales Problem bezeichnete.
Der Untersuchungsbericht GIEI erklärt hingegen: „In der öffentlich dargestellten offiziellen Version der Ereignisse und im Ermittlungsdossier erscheint diese Trennung klar, als ob es sich um zwei verschiedene Szenarien handelte, in denen die Polizei und Behörden keine Entscheidungsgewalt über das Schicksal der inhaftierten Lehramtsstudenten hatten.” Für die GIEI gibt es jedoch keine Trennung in zwei Abschnitte, stattdessen gehörten sie zu einer einzigen koordinierten Aktion: „Die Entscheidung über das Verschwindenlassen weist Kontinuität mit der Handlungsabfolge auf, wie sie sich von Anfang an entwickelt hat”. Zudem weist die Expert*innengruppe darauf hin, dass die Verbrennung von 43 Menschen auf die Art und Weise, wie sie die Regierung behauptet, gar nicht möglich sei. Daher ist die GIEI davon überzeugt, dass „die 43 Studenten nicht auf dem kommunalen Müllplatz Cocula eingeäschert wurden.“
Ein weiterer Teil des Untersuchungsberichts bezieht sich auf die Rolle der Armee. Seit den 1970er Jahren ist das Militär zum Zweck der Aufstandsbekämpfung im Bundesstaat Guerrero aktiv. Der Einsatz von Militärs bei Fragen der „öffentlichen Sicherheit“ und ihre Einbeziehung in den „Krieg gegen die Drogen“ seit 2006 erhöhte ihre Präsenz und ihre Kontrolle über das Gebiet. Die 35. Militärzone in Chilpancingo, der Hauptstadt des Bundesstaates, übernahm die Rolle der Koordination zwischen den zivilen und militärischen Sicherheitskräften in der Region. Ihre Operationsbasis in Iguala ist das 27. Infanterie-Bataillon. Von daher scheint es unerklärlich, warum die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft das Militär nicht miteinbeziehen. Der Untersuchungsbericht der GIEI ergab dagegen schon viel genauere Informationen, die bekräftigen, dass Soldaten des 27. Infanterie-Bataillons während der am 26. September in Iguala begangenen Verbrechen anwesend waren.
So hatten laut Bericht Soldaten und Kommandeure des 27. Bataillons sehr wohl Kenntnis davon, dass die Lehramtsstudenten von der lokalen Polizei festgenommen wurden. Die gleichen Militärs bestätigten später, die Studenten hätten sich jedoch nicht auf dem Gelände der Polizei befunden. Nach den Untersuchungen der GIEI ist auch bekannt, dass das Militär des 27. Bataillons die zivile Koordinations­stelle der öffentlichen Sicherheitskräfte darüber nicht informierte. Die Fragen, die sich sowohl die Expert*innen als auch viele Sektoren der Zivilgesellschaft stellen, lauten: Welche Maßnahmen ergriffen die höherrangigen Militärs aufgrund dieser Informationen, an wen leiteten sie diese weiter und welche Befehle erhielten sie?
In diesem Sinne ist es notwendig, die Ermittlungen zu vertiefen, denn die Erklärung der mexikanischen Regierung wurde vom Untersuchungsbericht der internationalen Expert*innen – trotz ihres diplomatischen Tons – deutlich bezweifelt. Die begangenen Staatsverbrechen gegen die Lehramtsstudenten von Ayotzinapa enthüllen Indizien eines ernsteren Problems, verknüpft mit dem Vorgehen des Militärs in der Region. Denn der Bericht der Expert*innen zeigt deutlich ihre Zweifel an der Verantwortlichkeit lokaler Drogenbanden: „Eine so beispiellos abscheuliche und doch ausgetüftelte Vorgehensweise an den Tag zu legen, ohne auf Erfahrungswerte, erprobte Methoden, Materialien etc. zählen zu können“ habe „weder Vorläufer vor Ort, noch im Vorgehen der Verbrecher von Guerreros Unidos“. Dies beziehe sich auf den gesamten Ablauf, „vom Verschwindenlassen bis zur Verwandlung der Studenten in Aschereste“. Diese seien „nicht einmal durch DNA-Tests identifizierbar, ähnlich wie das Ergebnis einer Verbrennung in einem Krematorium“.
Es bedarf nur geringe Kenntnisse der politischen Geschichte Mexikos seit den 1970er Jahren, um zu wissen, dass die Armee der einzige Akteur ist, der die Fähigkeit hat, Menschen auf diese Weise gewaltsam verschwinden zu lassen, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen. Wie der Universitätsprofessor und Kolumnist Carlos Fazio in der Tageszeitung La Jornada feststellte, ist es notwendig, dass die GIEI autorisiert wird, die Soldaten des 27. Bataillons zu befragen sowie zu überprüfen, ob es Indizien für das Vorhandensein eines Kre­­mato­riums in dessen Quartier oder in der 35. Militärzone gibt.
Der Untersuchungsbericht endet mit der Empfehlung, die Regierung solle ihre Ermittlungen neu konzipieren und die Suche nach den Studenten fortsetzen. Präsident Enrique Peña Nieto, der zunehmend auch international unter Druck steht, reagierte mit der vagen Ankündigung, er habe die zuständigen Behörden angewiesen, „die von den internationalen Experten vorgetragenen Empfehlungen zu analysieren“.
Angesichts der bisherigen Verweigerung der Regierung, den Fall ernsthaft aufzuklären, ist bei allen Absichtserklärungen große Skepsis angebracht. Der Schmerz und die Wut der Opferangehörigen und ihrer Mitstreiter*innen werden nicht so schnell vergehen können.

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