Mexiko | Nummer 598 - April 2024

Eine Fabrik von Schuldigen

Wie Mexiko durch institutionalisierte Folter seine Kriminalfälle löst

Menschenrechtsverteidiger*innen in Chiapas und anderen Teilen Mexikos beobachten eine systematische Nutzung von Folter, um Unschuldige, meist marginalisierte Menschen, dazu zu bringen, Geständnisse für Kriminaldelikte zu unterschreiben, die andere begangen haben. Während der Staat so seine Aufklärungsstatistik poliert, sind Betroffene mit jahrelangen Haftstrafen und immensen psychologischen, körperlichen und materiellen Schäden konfrontiert.

Von Anne Haas, Chiapas
Triste Nachbarschaft Julia lebt neben dem Gefängnis El Almate, um ihren Mann zu besuchen (Foto: Anne Haas)

„Immer wenn ich das erzähle, muss ich weinen. Weil ich das wirklich erlebt habe”, sagt Julia Hernández Hernández. Die 48 Jahre alte Frau mit schulterlangen, mit einer Spange nach oben gesteckten Haaren in Leggins und einem geblümten Shirt wischt sich die Tränen weg und versucht sich an einem entschuldigenden Lächeln. Sie sitzt umgeben von circa zwanzig Personen. Sie alle sind Überlebende oder Angehörige von Betroffenen von Folter. Víctimas, Opfer, wie einige mit einem gewissen Selbstbewusstsein sagen. Die Selbstbezeichnung ist für viele zum Kampfbegriff geworden. Als víctimas sind sie auf ewig gezeichnet von der Ungerechtigkeit des Staates und repräsentieren zugleich Widerstandskraft. Denn hier sind sie: Trotz der Gewalt konnten sie nicht zum Schweigen gebracht werden.

Allein im Bundesstaat Chiapas begleitet und dokumentiert das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba) aktuell über fünfzig Fälle von willkürlicher Verhaftung und Folter. Regelmäßig organisiert das Zentrum Treffen für Überlebende und deren Familien zum Austausch und gegenseitiger Unterstützung. Aus den Treffen hat sich das lose Netzwerk der Vereinten Familien gegen die Folter und für die Verteidigung der Menschenrechte gegründet. Sie stützen einander nicht nur emotional, sondern auch ganz praktisch beim Gang auf das Amt oder zum Gericht: Termine, die für Personen, die einmal die ungehemmte Gewalt des Polizei- oder Justizaparrates erlebt haben, zu einem schweren Kraftaufwand werden.

Sie alle stehen an verschiedenen Punkten einer sich stets wiederholenden Geschichte. Meistens beginnt sie mit Sätzen wie „Wir sind einfache Leute“ und „Sie haben mich / meinen Mann / meinen Sohn / meinen Bruder einfach festgenommen. Ich wusste tagelang nicht warum und wo ich / er war.“ Darauf folgen in der Regel haarsträubende Berichte von Foltererfahrungen, oftmals im Keller oder Nebenraum einer Staatsan­waltschaft oder direkt im Gefängnis – wie sich später rekonstruieren lässt. Die Folter dauert je nach Laune der Polizist*innen und Widerstandskraft der Betroffenen von einigen Stunden bis zu zehn Tagen und endet mit der erzwungenen Unterschrift eines leeren Blattes. Manchmal ist es auch bedruckt, selten jedoch bekommen es die Gefolterten zu Lesen. „Ich wollte noch ein bisschen leben, also habe ich unterschrieben“, berichtet ein Mann während dem Treffen seine Erfahrung. Nach sieben Jahren Haft ist er seit 2021 wieder frei. Seine Frau hält seinen Arm und presst die Lippen zusammen, einige Anwesende nicken wissend und verständnisvoll.

Willkür mit System

In Mexiko existiert ein System institutionalisierter Folter. Es sollte mit der Justizreform von 2008 eigentlich abgeschafft werden. Bis dahin galt ein sogenanntes inquisitorisches Strafprozessrecht, welchem es an einer klaren Gewaltenteilung mangelte. Urteile wurden vorwiegend auf Basis der Ermittlungsakten entschieden. Anhörungen und Prozesse fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt oder nur auf dem Papier. Angeklagte hatten in der Praxis keine Chance auf eine Aussage, geschweige denn eine reale Strafverteidigung oder Unschuldsvermutung. Dies bot ein offenes Tor für systematische Folter, denn erzwungene Geständnisse oder Belastung durch Dritte konnten juristisch kaum widerlegt werden.

Das neue Justizrecht ist ein wichtiger Schritt, um grundlegende Rechte Angeklagter zu wahren. Die praktische Umsetzung dauerte auf Bundesebene knapp zehn Jahre, 2016 implementierte auch Chiapas als einer der letzten Bundesstaaten das neue System. Im Zuge der Reform wurden die Befugnisse von Polizei und der neu geschaffenen unabhängigen Staatsanwaltschaft ausgeweitet. Dies sollte mit einer vertiefenden Aus- und Fortbildung des Beamtenapparates einhergehen. So finanziert unter anderen die deutsche GIZ seit 2015 verschiedene Programme zur Stärkung des Rechtsstaates und zur Prävention von Folter. Im Zuge dieser Projekte arbeitet sie direkt mit den Bundes- und Landesstaatsanwaltschaften zusammen. „So soll eine effektive Tatort- und Ermittlungsarbeit gewährleistet werden. Mitarbeiter werden in Befragungstechniken und Tatortarbeit fortgebildet“, heißt es in der Beschreibung eines Pilotprojektes.

Für so manche mexikanische Menschenrechtsaktivist*innen ist dies ein zweischneidiges Schwert, können doch verbesserte Kenntnisse über Beweissicherung und Forensik auch gegen unschuldig Angeklagte eingesetzt werden. Dazu kommt, dass das Personal der Kriminalpolizei und Justiz trotz Umstrukturierungen überwiegend aus dem alten System übernommen wurde und damit auch aus „der alten Schule“ stammt, wie Frayba im Jahresbericht 2023 vorlegt. Für das Zentrum einer von vielen Gründen, warum sich die menschenverachtenden Praktiken der Folter fortsetzen: „Solange die institutionelle Kultur und informelle Schule weiterexistiert, die auf der Fabrikation von maßgeschneiderten Ermittlungsakten basiert, werden die Behörden (…) weiterhin künstliche Strategien entwickeln, um sich an die [neuen juristischen] Umstände anzupassen.“

Alte Schule trotz der Reformen

Ein besonders eindrückliches Beispiel, wie Geständnisse von Polizei und Justiz versucht werden zu erpressen, liefert die Geschichte von Julia und ihrem Lebensgefährten Carlos Antonio. Julia Hernández berichtet, wie Carlos Antonio am 29. Oktober 2019 im Haus ihrer Tochter in Tuxtla von einem vierzigköpfigen Polizeikommando verschleppt wurde. „Wir schauten gerade eine Telenovela, Carlos hatte sich schon hingelegt. Plötzlich rammten sie die Tür ein“, berichtet sie. „Wo das Geld sei, wo die Drogen seien, wollten sie wissen.“ Carlos wurde verhaftet. Julia zogen sie kurz darauf an den Haaren aus dem verwüsteten kleinen Holzhaus.

Getrennt voneinander wurden sie zur Staatsanwaltschaft gebracht. Julia wurde über Tage misshandelt – durch das Überstülpen von Plastiktüten, Schläge, Waterboarding und die Ansage, dass man ihren Mann weiter quälen würde, wenn sie nicht preisgebe, wo er die vermeintlichen Drogen gelagert habe. Sie schwieg, denn sie hatte keine Antworten darauf. Daraufhin musste sie in den folgenden Tage mitansehen, wie eine Gruppe von Polizist*innen ihren Lebensgefährten immer wieder mit Fäusten und Elektroschocks malträtierten. Beide wurden über Stunden an Händen oder Füßen aufgehängt. Drei nicht enden wollende Tage, in denen die beiden nicht einmal wussten, was ihnen vorgeworfen wurde und die darin mündeten, dass Carlos Antonio mit einer Bauchwunde ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. „Sie haben mich nach Hause geschickt, aber nur weil sie dachten, dass er sterben würde“, erzählt Julia. Sie verließ das Gebäude in nichts als der Kleidung, in der sie hereingeschafft wurde, und nahm sich ein Taxi. Carlos Antonio musste ein Stück Darm entnommen werden, eine zwanzig Zentimeter lange Narbe und tägliche Schmerzen erinnern ihn bis heute an die Verhaftung. Er sitzt nun schon seit fünf Jahren unschuldig im Gefängnis, sie kämpft für seine Freilassung. Mittlerweile wohnt Julia in der Kleinstadt Cintalapa neben dem größten Gefängnis von Chiapas, El Amate. Hier kann sie ihren Partner täglich besuchen und ihm Essen bringen. Die fettige Nahrung der Anstalt verträgt er seit der Verletzung durch Folter nicht mehr. „Meine Tochter, meine Nichten, meine Schwestern, alle suchten mich damals“, erzählt Julia. Erste Anlaufstelle war die Staatsanwaltschaft in Tuxtla, doch die Beamten verleugneten sie. „Aber natürlich waren wir dort! Nur eben im Tunnel. Es gibt den offiziellen Eingang und es gibt den Tunnel. Dort halten sie die Gefangenen.“ Nach ihrer Freilassung kampierte sie mit ihrer Familie im Hungerstreik tagelang vor der Landesregierung von Chiapas und organisierte kleine Pressekonferenzen, die sie auf Facebook übertrug. Seitdem wurden ihre Töchter und sie selbst immer wieder von der Polizei überwacht und eingeschüchtert. Ein weiterer Grund für ihren Umzug.

Trotz allem kämpferisch Julia setzt sich weiter für die Freilassung ihres Lebensgefährten ein (Foto: Anne Haas)

Die Jahre der erlittenen Ungerechtigkeit zehren an ihr, sie wirkt zermürbt. Doch ihre Worte klingen klar und entschlossen. Auch der Richter habe damals versucht, Julia zu erpressen. Vor der Verhandlung bat er sie, ihren Lebensgefährten zu einem Geständnis zu überzeugen. In diesem Fall bekäme er nur fünf Jahre, ansonsten bis zu zwanzig. Als sie Carlos von dem möglichen Deal berichtete, habe er zu ihr gesagt: „Nein, Mamíta. Ich habe die Folter überlebt, diesen Kampf stehen wir auch noch aus.“ Doch nur wenige Menschen haben das Durchhaltevermögen der beiden.

Das Menschenrechtszentrum Frayba und andere Institutionen in Mexiko erkennen in den willkürlichen Verhaftungen ein Muster, das sich bei hunderten Fällen wiederholt. Sie sprechen von einer fábrica de culpables, einer Fabrik von Schuldigen. 44 Prozent der Inhaftierten gaben bei der Umfrage ENPOL (Nationale Umfrage über Menschen unter Freiheitsentzug, LN) von 2021 an, wegen einer falschen Beschuldigung verhaftet worden zu sein, 23 Prozent sogar ohne Haftbefehl. Sie werden für Kleinstdelikte festgenommen, angeblich auf frischer Tat ertappt. Die Konstruktion als „in flagranti“ ermöglicht eine Präventivhaft von bis zu 48 Stunden in der Staatsanwaltschaft, die in der Praxis jedoch oftmals länger ist. Hier findet die Folter in separaten Räumen statt. Laut der Umfrage geben 28 Prozent der festgenommenen Männer an, in dieser Situation geschlagen worden zu sein, etwa 18 Prozent wurden gewürgt, 14 Prozent mit dem Kopf unter Wasser gehalten. Die Angaben der Frauen fallen nur geringfügig anders aus. Insgesamt berichten 64 Prozent aller Inhaftierten von gewaltvollen Akten.

Ungerechtigkeit trifft besonders die Prekarisierten

Nicht immer endet die Folter so gravierend wie bei Carlos Antonio. Die Beschuldigten werden meist innerhalb einer Woche aus der Staatsanwaltschaft oder dem Gefängnis entlassen. Doch direkt vor der Tür wartet bereits ein Polizeikonvoi und die betroffenen Personen werden unmittelbar erneut festgenommen – mit einem Haftbefehl auf Basis des Geständnisses, das in der Präventivhaft unter Folter erpresst wurde.

Auch Carlos Antonio ging für ein Verbrechen ins Gefängnis, das er nie begangen hatte. So war fünf Tage vor seiner und Julias Verhaftung auf einer Landstraße nach Ixtapa ein Geldtransporter überfallen worden. Über drei Millionen Pesos wurden von vier bewaffneten Männern gestohlen, zwei Polizisten angeschossen.

Jorge Luis Llaven Abarca, seinerzeit Oberstaatsanwalt von Chiapas, versprach öffentlich schnelle Aufklärung. Der Druck Ermittlungsergebnisse zu liefern war aufgrund seiner politischen Ambitionen Senatsabgeordneter zu werden hoch. Gemeinsam mit über hundert Organisationen aus ganz Mexiko hat das Menschenrechtszentrum Frayba bereits bei der Ernennung von Llaven Abarca zum Oberstaatsanwalt im Jahr 2018 die Absetzung des „Folter-Anwalts“ gefordert.

Wenn für Straftaten der öffentliche Druck hoch ist, die realen Täter allerdings nicht gefasst werden können, finden die Justizbehörden Hand in Hand mit Politiker*innen selbst kriminelle Lösungen. Opfer dieser Machenschaften werden dabei besonders Prekarisierte und Marginalisierte, deren Lage sich dadurch weiter verschärft und deren Stimme selten gehört wird.

Vor Gericht kaum eine Chance

Neben Carlos wurden vor fünf Jahren noch drei weitere Männer der Tat beschuldigt. Als sie nach wenigen Tagen entlassen wurden, vermutete er, dass sie ein Bestechungsgeld gezahlt haben. „Aber wir, wie sollten wir das bezahlen?“, fragt Julia. Bis zu ihrer Verhaftung arbeitete Julia als Haushaltshilfe, Carlos sammelte Altpapier auf der Straße.

Laut Frayba erfüllt die Folter neben den erzwungenen Geständnissen zudem noch einen anderen Zweck. Sie dient dazu, die Betroffenen derart einzuschüchtern und zu bedrohen, dass sie bei der Anhörung– die nach neuem Prozessrecht öffentlich ist und per Video aufgezeichnet wird – nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen. Sie stehen unter Schock und sind aufgrund ihrer sozialen Herkunft oft nicht in der Lage, den juristischen Inhalt der Verhandlung vollständig nachzuvollziehen. In Kombination mit den wenig motivierten Pflichtverteidiger*innen haben sie somit kaum eine Chance.

Nach vier Jahren Untersuchungshaft wurde Carlos Antonio im Oktober 2023 zu 16-einhalb Jahren Haft verurteilt trotz der Tatsache, dass Frayba den Fall vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission und die UNO brachte. „Der Richter hat seine Drohung erfüllt“, resümiert Julia. „Ich kämpfe trotzdem weiter. Es ist ungerecht, was sie uns angetan haben. Ich hoffe nur, dass die Leute mich hören!“ Die Erfahrungen der „Vereinten Familien“ verbreiten zumindest eine kafkaeske Hoffnung. Die meisten Gefangenen dieser Gruppe kommen eines Tages und oft vor Absitzen des Urteils frei. Wie lange dieser Kampf dauert, das ist die große Unbekannte.

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