Migration | Nummer 510 – Dezember 2016

ERBARMUNGSLOSE JAGD

Marta Sánchez Soler, Präsidentin der Migrantischen Bewegung Mesoamerikas (M3), über die aktuellen Entwicklungen auf Mexikos Migrationsrouten

Die Migrationsrouten durch Mexiko sind noch schwieriger, noch brutaler geworden. Für die LN kommentiert Marta Sánchez Soler, langjährige Aktivistin und Präsidentin der Organisation Migrantische Bewegung Mesoamerikas (M3), die Auswirkungen des Programms „Frontera Sur“ (Südgrenze) und die aktuelle Krise in Tijuana.

Von Marta Sánchez

Migrant*innen im Transit durch Mexiko sind in den Händen des organisierten Verbrechens. Durch Entführung, Erpressung, Schmuggel und Zwangsarbeit und unter Mithilfe der mexikanischen Behörden sind sie zu einer zweiten Einkommensquelle geworden – nicht nur für die Mafia. Über Verträge mit Schlepper*innen und dem Drogenkartell der Zetas erhalten die mexikanischen Behörden großzügige „Gegenleistungen“, wenn sie den Menschenstrom durch Straßen, Flughäfen und Seewege durchlassen.
Wir können nicht über die Migration in Mexiko reden, ohne „die Bestie“ zu erwähnen. Diesen Namen hat sich der Güterzug nach Norden gut verdient. Es ist die vorbeifahrende Bestie, auf welche die Migrant*innen aufspringen, um den Einwanderungskontrollen und Erpresser*innen zu entkommen, die an jeder Straße lauern.
Früher waren die größten Gefahren der Zugreisenden, aus Erschöpfung einzuschlafen und vom Dach des Zuges zu fallen. Seit 2013 aber haben immer mehr kriminellen Banden ein neues Geschäft für sich entdeckt: Sie kassieren einen „Wegzoll“ von 100 US-Dollar pro Streckenabschnitt. Wer nicht zahlen kann oder will, wird vom Zug geschmissen oder gleich mit Schusswaffen exekutiert.
Das Programm „Südgrenze“ der mexikanischen Regierung soll verhindern, dass die Migrant*innen auf den Zug gelangen, „um die Menschenrechte der Migranten zu schützen“. Es lässt aber keinen Zweifel an der geopolitischen Strategie, dass Mexiko die Migrationsströme aus dem Süden aufhalten soll. Es ist ein weiterer Versuch der USA, dem sich die mexikanische Regierung unterordnet. Mit ihm hat die regionale Migrationspolitik ihre Ehrbarkeit verloren und wandelt sich offen zu einer reinen Sicherheitspolitik. Unter der Logik von „verfolgen, einfangen und abschieben“ wird versucht, die Grenze zu Guatemala zu verstärken.
Trotzdem bestimmt „die Bestie“ weiterhin das migrantischen Leben. Die ärmsten Migrant*innen nutzen den Zug weiter, wann immer sie können, den Vereinbarungen von Behörden und Eisenbahnunternehmen zum Trotz. Die Lokführer*innen versuchen daher, so schnell wie möglich zu rangieren. Sie beschleunigen an Brücken und schrecken selbst davor nicht zurück, die Waggons einfach abzukoppeln, auf die die Migrant*innen aufgestiegen sind. Andere Güterbahnhöfe sind praktisch komplett von der Bundespolizei eingenommen.
Die Migrant*innen müssen dann mit dieser Situation umgehen und entscheiden sich, hunderte von Kilometern abgelegener Wege durch Berge, Dschungel und Wüsten zu laufen. Damit sind sie unsichtbarer geworden sowie verwundbarer und hilfloser gegenüber der lauernden organisierten Kriminalität und den lokalen Banden. Diese ernten, was von einer Migrationspolitik gesät wurde, die einer Logik der nationalen Sicherheit folgt.
Die traditionellen Wege, um die nördliche Grenze zu erreichen, schließen sich. Razzien, an denen sich Bundes- und Landespolizei, Migrationsbeamte und in einigen Fällen auch die Marine beteiligen, sind das tägliche Brot: Laut Zahlen der mexikanischen Migrationsbehörde wurden allein in der ersten Jahreshälfte 2016 über 80.000 Migrant*innen aus Mexiko abgeschoben, fast ausschließlich Zentralamerikaner*innen.
Während in den letzten drei Jahren nur knapp 3.000 von fast 7.000 Asylanträgen genehmigt worden sind, hat sich die Zahl festgenommener Migrant*innen auf fast 200.000 mehr als verdoppelt. In jedem Fall hat die Überwachung und Kontrolle der mexikanischen Südgrenze zu einer erbarmungslosen Jagd auf zentralamerikanische Migrant*innen geführt.
Trotz dieser Strategie hat die Region eine Steigerung der Migration erfahren. Die „irreguläre“ Migration aus Zentralamerika wird ihren Aufwärtstrend fortsetzen, solange die Gewalt nicht aufhört, Land enteignet und Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Armut und die weiteren Ursachen nicht angegangen werden, welche die Menschen in die Flucht treiben.
Seit 2013 sind vermehrt Garífunas auf den Migrationsrouten anzutreffen. Gruppen mit bis zu 100 afro-karibischen Personen sind auf dem Weg. Ganze Gemeinden sind aus ihrem angestammten Land vertrieben worden, weil es in die Hände von „Modellstädten“ sowie touristischen und extraktiven Megaprojekten gefallen ist. Auch hat die Zahl der Schlepper*innen zugenommen, die von Eltern in den USA bezahlt werden, um ihre Kinder nachzuholen. Jugendliche sind weiterhin im Visier der Banden in El Salvador und Honduras, die im Drogen- und Erpressungsgeschäft tätig sind. Nicht nur in den größeren Städten, sondern auch in anderen Ballungsgebieten werden Minderjährige für gewöhnlich als Informant*innen und Drogenverkäufer*innen in Schulen eingesetzt. Wer sich widersetzt, wird hingerichtet.
Die Maras kassieren für alles: große, mittlere oder kleine Geschäfte, auch den Verkauf auf der Straße. Die Schutzgelderpressung ist so verbreitet, dass selbst diejenigen zahlen müssen, die Verwandte in den USA haben. Zudem herrscht die totale Straflosigkeit: Aufgrund der Komplizenschaft der Behörden mit der organisierten Kriminalität sind viele Personen nach Erstattung einer Anzeige hingerichtet worden.
Seit dem Frühjahr 2016 sind vermehrt Migrant*innen aus Ländern Afrikas und des Nahen Ostens über Brasilien nach Mexiko in Richtung USA gereist. Ohne Reisepass und ohne weitere Möglichkeit, ihre Nationalität nachzuweisen, können sie meist gar nicht abgeschoben werden. Nach einer kurzen Festnahme entlässt die Migrationsbehörde diese Menschen in der Regel mit der Aufforderung, innerhalb von 20 Tagen das Land zu verlassen. 14.800 dieser faktischen Transiterlaubnisse sind allein an der Südgrenze ausgestellt worden.
Tausende warten derzeit in den nördlichen Grenzstädten Tijuana und Mexicali darauf, dass die U­S‑Behörden ihnen Vorladungen ausstellen, um Asyl beantragen zu können. Es ist gut bekannt, dass mit diesen Vorladungen ein illegaler Handel betrieben wird.
In Tijuana wurde die Zahl der Vorladungen auf 70 pro Tag reduziert, in Mexicali auf 40. Diese politische Entscheidung der USA ist scharf kritisiert worden, zwingt sie die Migrant*innen doch, mehrere Wochen auf der mexikanischen Seite der Grenze zu warten. Es belastet die Kapazität der Herbergen und der Zivilgesellschaft, humanitäre Hilfe sicherzustellen. Bei 300 Neuankommenden täglich, ist das nun nicht mehr möglich. Hunderte sahen sich gezwungen, auf der Straße zu schlafen. Die Situation ist zu einer humanitären Krise größeren Ausmaßes geworden.
Der jähe Anstieg von Menschen aus aller Welt auf der Migrationsroute von Brasilien nach Mexiko legt nahe, dass sich durch die Beschränkungen der Routen nach Europa neue Korridore für die Menschenschmuggler eröffnet haben. Mit noch mehr Migrant*innen an der Grenze, verschärft sich die Krise in Tijuana als weiterer Ausdruck der weltweit größten Flüchtlingsbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Eines ist klar: Für das Leiden der Menschen sind alle involvierten Länder verantwortlich. Das Thema der Migration kann nur mit regionalen Strategien gelöst werden, die die Menschenrechte respektieren: das Recht zu migrieren, das Recht, nicht gewaltsam vertrieben zu werden und das Recht, nicht migrieren zu müssen.

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