„ES BELIEBTE ZU GESCHEHEN“
Der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura hat eine Sammlung kostbarer Kurzgeschichten veröffentlicht
„Du wirst dich an mich erinnern, wenn abends die Sonne versinkt. Du wirst es beweinen, doch dann wird es zu spät sein, für ein Zurück. Verfolgen werden dich die göttlichen Erinnerungen an gestern, quälen wird dich dein unglückliches Gewissen…“ Diesen Bolero singt, nein, haucht die Sängerin Violeta del Río in das „Mikrofon – jeder weiß, wie ein Mikrofon aussieht – unmittelbar vor, ja, fast zwischen ihren Lippen.“ War der „revolutionäre, katholische und arme naive junge Mann, der ich damals war“ schon über alle Maßen von Violetas Foto fasziniert, das ihn immer wieder zum Nachtclub La Gruta auf der Rampa zurückkehren ließ, so verfällt er ihr und der Magie ihres Auftritts nach dem ersten Konzert völlig.
Unter dem Titel der Kurzgeschichte Neun Nächte mit Violeta, hat der Unionsverlag nun die deutschsprachige Ausgabe dieser 2015 auf Spanisch erschienenen Sammlung von Leonardo Padura veröffentlicht. Der Band enthält 13 kurze Erzählungen, die zwischen 1985 und 2009 entstanden sind, die meisten in den 1980er und 1990er Jahren. Dabei zeigt Kubas international bekanntester Schriftsteller einmal mehr und mit jeder der Geschichten aufs Neue seine literarischen Qualitäten. Jede einzelne ist ein kleines literarisches Juwel, sprachlich meisterhaft, psychologisch vielschichtig, viele sind ein Roman in Kurzform.
Den Grundton der Sammlung schlägt der zitierte Bolero „Du wirst dich an mich erinnern“ ebenso an, wie der Titel der spanischen Originalausgabe „Es beliebte zu geschehen“, ein Zitat von Marc Aurel. Das Vergangene, das Unwiederbringliche, das schicksalhaft Geschehene ist das durchgängige Thema der vielfältigen Kurzgeschichten: War das Geschehene wirklich so schicksalhaft? Hat es wirklich keine andere Handlungsmöglichkeiten gegeben, die es erlaubt hätten, das Leben auf eine ganz andere Weise zu führen? Jede einzelne der Hauptfiguren stellt sich dieser Lebensfrage, wird „verfolgt von den göttlichen Erinnerungen“ und dem Gefühl der Schuld, die vor allem eine Schuld gegenüber den eigenen Träumen, den Wünschen und Hoffnungen der Jugend ist.
„Zu spät für ein Zurück“ ist es für fast alle, nicht nur die Jugendlichen, die geradezu in einen Mord hineinstolpern und, als Folge, auch in das Exil. Sicher zu spät ist es für Alborada Almanza, deren „glücklicher Tod“ – voller Guaventörtchen, Kaffee, Büchsenmilch und einem äußerst attraktiven Erzengel Raphael – sie zu der Erkenntnis bewegt, dass sie ihr Leben in Angst geführt hat, einer Angst „vor allem, auch davor, zu sterben.“ Wieder andere der Figuren stecken in einem Dilemma, wie der kubanische Soldat, der zwischen seiner Ehefrau in Kuba und seiner Geliebten in Angola steht.
Oder wie der Schriftsteller in der Erzählung Schicksal: Mailand-Venedig (via Verona), der mit der Entscheidung für oder gegen das Exil kämpft und diese zufälligen Zugbekanntschaften überlässt. Und auch wenn viele dieser Dilemmata „typisch kubanisch“ sind, weil sie durch das Exil von Freund*innen und Geliebten, die revolutionäre Pflichterfüllung, die Diskriminierung von Homosexuellen oder die schlechte Versorgungslage hervorgerufen wurden, so stellt Padura doch präzise, mit einer untergründigen Spannung und sehr unterhaltsam die universelle Frage nach individueller Handlungsfreiheit zwischen Schicksal und gesellschaftlicher Verpflichtung.
Leonardo Padura // Neun Nächte mit Violeta – Erzählungen // Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein // Unionsverlag // Zürich 2016 // 256 Seiten // 22,00 Euro // www.unionsverlag.com