Alternative Medien | Nummer 196 - September 1990

Explosive Metaphern und Bombenfotos, STERN-hagelvoll

Alltags- und Lebensbedingungen spannend zu beschreiben, ohne dabei der Sensa­tionsgeilheit zu verfallen, ist schwer. Fast noch schwieriger ist es, angemessene Bilder für die Urbanisierungsprozesse in der sogenannten Dritten Welt zu finden, ohne lediglich eingefahrene Klischees zu bestätigen, und das dann auch noch journalistisch umzusetzen. Ich habe also durchaus Verständnis dafür, da゚ die in den Medien vermittelten Bilder durch Erlebnisjournalismus vereinfacht werden. Trotz dieser Einschränkung gehören Reportagen über die “3. Welt” zum gruse­ligsten, was etablierte Journale so an Klischees, latentem Rassismus, Sensations­lüsternheit und oft extremer Frauenfeindlichkeit zu bieten haben. Ein markantes Beispiel dafür ist der Artikel “Die Menschenbombe” im STERN Nr. 34, eine Re­portage über “Slums” in Kalkutta. Diese Stadt liegt zwar nicht in Lateinamerika, die Auseinandersetzung mit dem Stern Artikel soll jedoch einige grundsätzliche Fragen berühren, die sich bei Lateinamerika-Reportagen genauso stellen.

Erdmute Alber

Schon in den ganzseitigen Fotos wird das ganze Arsenal von Armutsklischees aufgefahren. Da sitzt ein nacktes dunkelhäutiges Baby vor einer Bretterbude, in der Hand eine riesige Bratpfanne und starrt die Betrachterin grimmig an, als wolle es ihr in kurzer Zeit eins überbraten. Fettgedruckter Text direkt daneben: Heute bedroht die Bevölkerungsexplosion die Dritte Welt. Morgen uns. Das Schicksal von Bombay ist eine Warnung.
Oder das unvermeidliche Foto von schlafenden Menschen auf der Straße. Dazu fettgedruckt: Wo man sich betten kann, da liegt man. Darunter der Satz: Die giftigen Autoabgase stören sie nicht (alias: “haben einfach kein Bewußtsein von Umweltver­schmutzung, die Ignoranten”).

“Heute die Dritte Welt. Morgen uns.”

In einer subtilen Mischung werden den ganzen Text hindurch Erklärungen für die Handlungen von Bombays MigrantInnen angeboten, etwa, die Armut auf dem Lande und die Glitzerwelt der Stadt seien für die Migration verantwortlich. Gleichzeitig wird in anderen Sätzen angedeutet, daß seine Einwanderer doch nicht ganz bei Trost sein müssen. So zum Beispiel durch das Zitat: Bombay ist das Synonym für reale Anarchie. Oder: Die Menschen hier begreifen nicht, was Hygiene ist. Oder: Sie sind wie Kinder, Kinder der Finsternis.
Gerade diese Mischung macht den Text so brisant. Vordergründig wird dadurch nämlich immer ein begrenztes Verständnis für die Menschen in Bombay ange­deutet. So gibt es durchaus Passagen, die Migration plausibel zu machen versu­chen. Etwa der Satz: Und trotzdem: Keiner hungert [in Bombay. Anm. E.A.], jeder findet irgendeine Arbeit, während von einem Dorf die Rede ist, in dem es mehr Hun­ger als Arbeit gab. Gleichzeitig aber heißt es dann: Keiner, der noch bei Verstand ist, kann in dieser Stadt leben.
Widersprüchlich und klischeehaft ist der Text auch im Bezug auf MigrantInnen, die zum ersten Mal in die Stadt kommen. In der Metaphorik einer Lagersprache werden sie als die Neuen bezeichnet. Es heißt: Die Neuen sind unschwer auszuma­chen. Nur zögernd steigen sie – mit bindfadenverschnürten Pappkoffern und Kleider­ballen auf den Schultern – die Steintreppe zur Straßenbrücke empor. Der brausende Ver­kehr verwirrt sie. Manche brauchen Stunden, um die Straße zu überqueren. Andere su­chen sich gleich an der nächsten Mauer oder Straßenecke einen freien Platz. Wenns gut geht, wenn keiner sie verscheucht, entfalten sie Decken und richten sich im schützenden Winkel ein. Jetzt haben sie Fuß gefasst. Morgen erobern sie die Stadt.
Unzählige Migrationsstudien über verschiedene Städte belegen seit Jahren, daß Migration genau so nicht funktioniert. Daß Menschen normalerweise in Städte ziehen, in denen sie bereits Bekannte oder Familienmitglieder haben, die ihnen bei der Integration helfen und sie vorübergehend bei sich aufnehmen können. Daß Menschen erst “Probereisen” unternehmen, bevor sie mit Sack und Pack um­ziehen. Und dennoch muß das Bild der ahnungs- und hilflosen dummen Dörfler, die nicht einmal eine Straße überqueren können, immer wieder herhalten. Dabei spricht der Artikel an einer anderen Stelle selbst von Verwandtschaftsverbin­dungen, die Migrationsprozesse unterstützen. Allerdings lediglich, um die Angst vor der Bevölkerungsexplosion zu schüren und ohne das Bild von den Neuen zu überprüfen. Es heißt: Jeder, der in Bombay Fuß fasst, zieht laut Statistik zwanzig Fa­milienmitglieder nach. Bombay (…) ist wie ein Luftballon, der unbeirrt aufgeblasen wird. Irgendwann platzt er.

Rassismus in der Metaphorik

Der Rassisimus des Artikels ist vor allem in der Metaphorik versteckt. Die Welt ist darin aufgeteilt in WIR (= Europa, die zivilisierte Welt) und SIE (= die Men­schen in den Slums, in der Hölle Bombay).
In Anspielung auf die konventionelle Metapher von der Bevölkerungsexplosion wird die SIE Gruppe als Menschenbombe bezeichnet, von der WIR bedroht sind (Morgen uns). Die SIE-Gruppe, wohnt natürlich nicht in Bombay, sondern haust. Sie haust, tierhaft und unzivilisiert in Gelassen. Die Beschreibungen einzelner “Menschen”, die in Gelassen hausen, sind entsprechend: Shiva ist ihr Mann, dreißig Jahre alt, kräftig, schlau, aggressiv. Frauen werden daneben mit exotischer Attrakti­vität ausgestattet: Perlweiße Zähne, blitzende dunkle Augen. Unzivilisierte begut­achtet mann eben zuerst nach ihren körperlichen Qualitäten und offenbar sofort sichtbaren angeblichen Charakterzügen. Wie auf dem Sklavenmarkt.

Ein Menschenbild wie auf dem Sklavenmarkt

Durchgehend scheint es in dem Artikel weniger darum zu gehen, die Situation der Menschen in Bombay zu analysieren, sondern Ängste bei UNS zu schüren vor dem Entzünden der Bombe Bombay.
Bedrückende Szenarien sind unschwer vorstellbar. Überlebenskämpfe in überbordenden Mega-Städten führen zu Aufruhr und Chaos, erschüttern ganze Staaten. Armut treibt Millionen über die Grenzen. Das provoziert internationale Konflikte. Armeen von Ver­zweifelten werden neue Lebensräume suchen, auch die reiche Festung Europa bedrohen.
Um die Bombe zu entschärfen, gibt es in der Logik des Artikels dann auch nur eine Möglichkeit: sie zu verkleinern durch Geburtenkontrolle. Beherzte Recken im Kampf gegen die “Bombe sind Männer wie Dr. Pai, dessen Verdienst laut Stern-Artikel darin besteht, jährlich 40.000 Abtreibungen durchzuführen (zu Dr. Pai vergleiche Kasten). Produziert wird die Menschenbombe nämlich laut Artikel ein­zig und allein dadurch, daß Babyfabriken (…) eine Tochter nach der anderen gebären, bis endlich der ersehnte Sohn zur Welt kommt. Zitat Dr. Pai: Wenn wir den Kampf gegen die Baby-Fabriken verlieren, dann sind wir alle verloren.
Es geht also nicht darum, über strukturelle Probleme der Verstädterung nach­zudenken, gar darüber, wie die Lebensbedingungen der InderInnen in den Städten verbessert werden könnten oder gar, wie sie eigentlich wohnen und leben wollen. Es geht um den Kampf gegen Babyfabriken, gegen die Kinder gebä­renden Frauen, die angeblich an der Bevölkerungsexplosion schuld sein sollen.
Mich überrascht immer wieder, daß Journalisten es sich heute immer noch leisten können – und offenbar Erfolg haben – das Wort von der Bevölkerungsexplosion im Mund zu führen. Kein Wort darüber, daß die Menschen in Europa und den USA 80% der weltweit verbrauchten Energie verbrauchen, daß hier bei uns für mehr Geburten geworben wird, daß die allermeisten Menschen auf dieser Erde man­gels Ressourcen, Sprachkenntnissen und Einfluss nicht den Schimmer einer Chance hätten, die Festung Europa auch nur von weitem zu sehen, geschweige denn, sie zu bedrohen. Die Müllberge von Bombay sind laut Stern so groß, daß sie einhunderttausend Müllsammler ernähren. Dieses ökologische Schreckge­spenst im Artikel wird doch sofort geradezu harmlos, wenn mensch an die Müll­berge jeder europäischen Großstadt denkt und an die ungeheure Verschwen­dung in unserer Wegwerfkultur. Daß keine einhunderttausend Menschen von Berlins Abfällen leben, liegt doch nur daran, daß hier nur vergleichsweise wenig Menschen darauf angewiesen sind, die Abfalleimer und Müllkippen auszu­werten.
Letztlich ist es jedoch sehr einfach, die Argumentation des Artikels zu wider­legen. Fast unmöglich, so scheint es, das diskursive Feld zu verändern. Das Bild von der Bevölkerungsexplosion ist in aller Munde und Denken, der Rassismus im Artikel ist eben nicht vordergründig. Und wenn man schon von Bevölkerungs­explosion spricht, so erscheint die Menschenbombe auch lediglich als eine originelle Metapher, und wer schon so denkt und spricht, für den ist das Gerede von den Babyfabriken eben auch nichts besonders Abartiges. Schließlich geht es ja nicht um deutsche Frauen, sondern um die, die in Bombay hausen.

Kasten:

Dr. Pai – ein praktizierender Bevölkerungspolitiker

Im Stern-Artikel wird mehrfach ein gewisser Dr. Pai zitiert, der für Geburten­kontrolle und Abtreibungen wirbt.
Dr. Pai ist Pionier und Miterfinder der Massensterilisationen an Männern Ende der sechziger Jahre.
Er ist Erfinder des Prämiensystems (“Anreize” wie Saris, Geld, Dampf­kochtöpfe) für weibliche Sterilisationen (80% aller Sterilisationen werden an Frauen durchgeführt). Bis heute gibt es in Indien – trotz heftigen Protesten – Sterilisationscamps, in denen Frauen “am Fließband” sterilisiert werden.
Dr. Pai hat in Indien eine Klinik für Geschlechtsbestimmung eröffnet und befürwortet die Abtreibung von weiblichen Föten aus bevölkerungspoliti­schen Gründen.
Laut Stern führte Dr. Pai im vergangenen Jahr 40.000 Abtreibungen durch, das wären (bei einer Fünf-Tage Woche à 8 Stunden) 153 täglich, d.h. drei Minuten pro Abtreibung…

Kasten:

Melania

Im Rahmen eines Projektes, das bessere Überlebenschancen für die teilweise nomadischen Mapuches der Provinz Lonquimay (in den chilenischen Anden) erarbeiten sollte, besuchte ich gemeinsam mit einer chilenischen Soziologin und einem Vertreter der Stadtregierung von Lonquimay verschiedene Siedlungen der Mapuche und wir befragten sie über ihre Lebensbedingungen.
Melania und ihre Famile leben in El Naranjo, einer Siedlung aus wenigen Holzhütten, nahe bei einem Bach, umgeben von hohen Hü¬geln. Neben der Hütte ist ein kleines Kartoffelbeet, sonst unbe¬wachsene Erde.
Ihre Hütte besteht aus zwei Räumen, der “Küche” mit einem Herd, der aus einer Blechtonne hergestellt wurde, und einem Schlafraum, wo es für 11 Personen zwei Betten gibt, und Ziegenfelle.
Mit ihrem jetzigen Mann hat Melania, die 36 ist und wie 50 aus¬sieht, neun Kinder. Die älteren Kinder aus einer früheren Verbin¬dung arbeiten als Saisonarbeiter bei der Obsternte im zentralen Tal. Nie schicken sie Geld nach Hause, was Melania gar nicht begreifen kann.
Der jüngste Sohn, Santo, ist drei bis vier Jahre alt. Er ist nur mit einer zerrisse¬nen Unterhose bekleidet, während wir mit Pullover und Anorak frösteln. Die Tochter Ludminda besitzt eine Puppe. Die Puppe ist blond und blauäugig und ihr größter Reichtum.
Ganz plötzlich und unaufgefordert beginnt Melania von der Geburt von Santo zu sprechen. Als sie zur Entbindung im Krankenhaus war, sagte ihr der Arzt, jetzt reiche es aber mit dem Kinderkriegen, sie habe doch schon viel zu viele Kinder, das müsse jetzt endlich aufhören.
Das erzählt sie uns, die sie heute zum ersten Mal in ihrem Leben sieht, ungfragt, drei oder vier Jahre später, immer noch mit Tränen in der Stimme. Dies ist die schlimmste Kränkung, die ihr je zugefügt wurde. Wenn sie keine Kinder mehr kriegen darf, was kann sie dann überhaupt noch, welchen Wert hat sie noch? Wie kann der Arzt ihr einfach verbieten, ihr Eigenes zu tun?
Und sie hat seitdem keine Kinder mehr geboren.
Warum ist Melania so tief gekränkt? Weil ein Fremder über sie be¬stimmt? Weil er sie (heimlich?) sterilisiert hat? Weil ihr Mann nicht zufrieden ist, daß sie keine Kinder mehr bekommt?
Was bedeuten für sie die Kinder? Einen Lebenssinn? Eine Selbstbestätigung, eine Altersversicherung, den Inhalt ihrer Existenz, die aus Arbeit und Elend besteht?
Warum war Melania uns gegenüber so aufgeschlossen und mitteilsam, obwohl wir doch sichtlich der gleichen Gesellschaftsschicht ange¬hören wie der Arzt? War es der Leidensdruck, die Empörung?

Holde Pinnow

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