Film | Nummer 527 - Mai 2018

FLAMMENDES ZEITZEUGNIS

Regisseur Fernando „Pino“ Solanas über sein Jahrhundertwerk La Hora de los Hornos

Interview: Jorge Hoenig (Übersetzung: Dominik Zimmer)

Wie sehen Sie La Hora de los Hornos heute, 50 Jahre nach der Filmpremiere?
Ich sehe ihn als großes historisches, soziopolitisches Gemälde seiner Zeit. Wir wollten keinen Dokumentarfilm mit Archivaufnahmen oder kommentierten Zeugenaussagen machen, sondern einen meinungsstarken Essayfilm. Er sollte Zeugnis über die neokoloniale Situation und die tagtägliche Gewalt ablegen, die man in den 1960er Jahren in Argentinien und im Großteil Lateinamerikas erlebte. So entstand die Erzählstruktur, die Unterteilung in Kapitel und Teilstücke, mit Zitaten von anderen Intellektuellen und Persönlichkeiten auf der Leinwand oder mit zitierten Sequenzen aus anderen Filmen. Was den politischen Aspekt betrifft, muss man den Diskurs aus den Umständen heraus betrachten, wie sie damals auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges aussahen. Fast der komplette Kontinent wurde von Militärdiktaturen oder abhängigen Demokratien regiert. Wir sahen keine Möglichkeit, eine Veränderung innerhalb der bestehenden Institutionen herbeizuführen, weil diese durch die pro-nordamerikanischen Diktaturen aufgelöst worden waren. Es gab keine freien Wahlen, Zensur und Repression waren sehr heftig, und in den Gefängnissen gab es tausende politische Gefangene. Heute wäre es undenkbar, einen bewaffneten Kampf anzugehen, um die Regierung zu übernehmen, weil die Rechtsstaatlichkeit und die Wahlabläufe funktionieren – mal gut, mal schlecht.

Warum ein Film in mehreren Teilen?
La Hora de los Hornos ist in drei Teile unterteilt, aus operativen Gesichtspunkten und wegen seiner Publikumsausrichtung. Ich erinnere mich, dass Godard mich 1969 in Paris fragte, ob es nicht ein Widerspruch sei, den Film in Kinos zu zeigen. Ich antwortete ihm, dass wir das sogar im Fernsehen machen würden, weil in unserem Land eine totale Zensur herrsche und wir Gegenöffentlichkeit schaffen wollten. Der zweite Teil, die Chronik des Peronismus / Chronik des Widerstands gegen den Putsch und die Diktatur der „Gorillas“ [Anti-Peronisten, Anm. d. Red.], war eine historische Aufzeichnung von 30 Jahren Kämpfen der unteren Klassen gegen die oligarchischen Diktaturen, die auf Perón folgten.

Foto: Cinesur S.A.

An wen richtete sich der Film?Der erste Teil von La Hora de los Hornos war eine filmische Anklageschrift und sollte über alle verfügbaren Wege vertrieben werden.
Der zweite Teil war dazu gedacht, ihn den historischen Protagonisten des Films selbst zu zeigen, und sein Ziel war es, geheime Kooperationen zu fördern, um den politischen Kampf zu intensivieren. Dieser Teil war als ein Akt der Reflexion konzipiert: Der Film wurde in der Mitte unterbrochen und ein Plakat kündigte eine nun folgende Diskussion an. Die epische Bedeutung von La Hora de los Hornos bestand nicht nur darin, den Film als Aktion des Widerstandes gegen die Diktatur von General Ongania zu zeigen, sondern auch die Entwicklung von etwas Neuem, Unbekannten zu fördern. Es ging darum, ein paralleles, geheimes Filmvorführungssystem zu schaffen, das alle Organisationen der Arbeiter und Studierenden sowie des politischen Widerstands umfasste. Wir haben einmal bis zu 63 Filmvorführungsgruppen verschiedener Organisationen gezählt.
Der dritte Teil bestand aus der Reflexion über verschiedene Möglichkeiten des Kampfes, um die Diktatur zu stürzen. Es ist ein offener und unvollendeter Film, weil er mit weiteren Notizen, Briefen und Zeitzeugenaussagen vervollständigt werden müsste.

Wie führten Sie die Arbeit, die mit La Hora de los Hornos begann, dann weiter?
Der zweite Film, den ich gedreht habe – La Hora war mein erster – war Los Hijos de Fierro (Fierros Söhne), eine Paraphrase des großen epischen Gaucho-Gedichtes Martín Fierro von José Hernández von 1872, das Teil des argentinischen Nationalepos ist.
Darin verlassen 1945 die Arbeiter der industriellen Vororte von Buenos Aires die Fabriken und besetzen das Zentrum der Oligarchenstadt. Sie fordern die Befreiung ihres Anführers, des Oberst Juan Perón, der von der Militärführung verhaftet worden war. Viele sagen, dass das mein bester Film sei. Sein Vertrieb war eingeschränkt, weil ich von der menschenverachtenden Diktatur verfolgt wurde. Ich musste 1976 das Land verlassen, und erst im März 1984 konnte der Film uraufgeführt werden. Mehrere der Protagonisten waren ermordet worden. Der Schmerz und die Notwendigkeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, waren so groß, dass wir nicht das große Publikum bekamen, das wir erwarteten. 2002 begann ich angesichts der neuen großen Krise und der Hungersnot in Argentinien eine Art neue Saga im Stil von La Hora de los Hornos. Ich durchquerte mit der Kamera das Land und so entstanden nach und nach mehrere Filme. Der erste war Memoria del Saqueo (Chronik einer Plünderung) und der letzte hatte gerade in diesem Jahr seine Weltpremiere auf der Berlinale: Viaje a los pueblos fumigados (Reise in die vergifteten Dörfer).

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
Was ich mir mit meinen 82 Jahren am meisten wünsche, ist die Realisierung von zwei oder drei Spielfilmen, von denen ich schon lange träume. Das Problem dabei sind die knapper werdende Zeit und der Mangel an Produzenten. Meine früheren Filme wollte niemand produzieren, und ich musste die doppelte Last schultern, sie gleichzeitig zu produzieren und zu drehen. Heute könnte ich das nicht mehr machen. Nicht nur, weil ich die Mittel dafür nicht habe, sondern auch, weil mich das umbringen würde. Während des Films Sur (Süden) hatte ich meinen ersten Herzinfarkt, bei La Nube (Der letzte Vorhang) den zweiten. Deshalb hoffe ich, dass jemand auftaucht, der einen dieser Filme produzieren möchte.

Foto: Santiago Trusso (CC BY-NC-ND 2.0)

Fernando Solanas ist einer der weltweit bekanntesten Regisseur*innen Lateinamerikas und Vertreter des „Dritten Kinos“. Sein Film La Hora de los Hornos, ein Akt des Widerstandes in Produktion und Rezeption, wurde in 70 Ländern von rund 40 Millionen Zuschauer*innen gesehen und erhielt zahlreiche Preise. Zum 50. Jahrestages der Filmpremiere wird er im Mai erneut in Cannes gezeigt.

 

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