Chile | Dossier | Dossier 19 - Aufruhr auf den Straßen | Kolumbien | Nummer 569/570 - November/Dezember 2021

FREI WIE DER ALBATROS

Aktivisten der primera línea aus Chile und Kolumbien im Gespräch

Gasmasken, Schilder zum Schutz gegen Polizeigeschosse, vermummte Gesichter – die Bilder der primera línea aus der Revolte in Chile und dem landesweiten Streik in Kolumbien sind um die Welt gegangen. Die „erste Reihe“: Das sind die, die andere Protestierende vor der Polizei schützen und oft auch Presse und Notfallsanitäter*innen vor den Geschossen der Sicherheitskräfte abschirmen. Aber was ist die primera línea? Wer steht da in erster Reihe? Für dieses Gespräch sind per Videoanruf zwei Aktivisten der primera línea aus Chile und Kolumbien zusammengekommen, die sich vorher nicht kannten.

Interview & Übersetzung: Susanne Brust

Widerständig Das “Anti-Denkmal” in Puerto Resistencia (Foto: Remux via Wikimedia Commons – CC BY-SA 4-0)

Auf dem Bildschirm taucht zuerst Nahuel auf: Sein Bild zeigt ein schlicht eingerichtetes Zimmer, irgendwo in Santiago de Chile. Ein junger Typ mit dunklen Locken, Brille und Ohrringen fängt an zu erzählen:

Nahuel: Hey, ich bin Nahuel Herane, 19 Jahre alt. Ich war bei der Revolte vom 18. Oktober 2019 in der primera línea dabei. Am 21. Dezember des gleichen Jahres – ich war 17 – haben mich sieben Schrotkugeln der Carabineros getroffen. Sechs auf den Körper und eine ins Auge. Bis heute kann ich auf dem linken Auge nichts mehr sehen.

Inzwischen ist auch Rolando Quintero da. Sein Bild wackelt, er ist auf dem Fahrrad in Puerto Resistencia unterwegs. Die Kreuzung war einer der zentralen Orte des kolumbianischen Nationalstreiks in Cali und ist heute ein Ort der Selbstorganisation von unten. Hier ist Rolando besser als El Profe (Der Lehrer) bekannt.

Profe: Hallo, ich bin Rolando, viele nennen mich el Profesor Papas oder el Profesor P. Ich habe an der Universidad del Valle Politikwissenschaften und Konfliktlösung studiert. Hier an dieser Kreuzung, früher Puerto Rellena und heute Puerto Resistencia genannt, habe ich mich am 28. April 2021 dem Generalstreik angeschlossen.

Der Profe ist an einer großen Baustelle angekommen. Hier entstehe ein riesiges Infrastrukturprojekt, erzählt er. Auf der Mitte des Platzes ragt eine große Hand in die Höhe – das „Anti-Denkmal der primera línea“, wie er es nennt.

LN: Wie kam es eigentlich dazu, dass ihr in der primera línea seid?
Nahuel: Ist es okay, wenn ich anfange, Profe?

Profe: Na klar, erzähl!

Nahuel: Also zu Beginn der Revolte war ich noch in der Oberstufe. Schon meine Familie hat eine sehr politische Geschichte: Mein Großvater war vor der Diktatur bei der Ermittlungspolizei PDI und 1973 als Personenschützer von Präsident Allende im Regierungspalast. Auch in der Diktatur waren meine Familienangehörigen in Widerstandsorganisationen wie der MIR aktiv. Mein politisches Bewusstsein hat in der Mittelstufe angefangen, also mit 14 oder 15. Ich fand die Politik der Regierungen schlecht, ging auf die Demos der Studierenden und Schüler und fand mich in einer anderen Welt wieder. Und dann kam der estallido social (so wird in Chile der Beginn der Revolte im Oktober 2019 bezeichnet, Anm. d. Red.). Erst da lernte ich die primera línea kennen. Die Tage nach dem 18. Oktober 2019 liefen immer gleich ab: Aufstehen, etwas essen und zur Plaza de la Dignidad, dem zentralen Ort der Proteste, laufen. Am späten Nachmittag kam ich nach Hause, habe gechillt und etwas gegessen, dann ging es auch schon wieder los zur Digni: zum Material suchen, andere Dinge vorbereiten. Es waren die chaotischsten Tage meines Lebens. Das ging zwei Monate, bis das mit dem Auge geschah. Von da an übernahm ich ruhigere Aufgaben.

Profe: Oft erwacht das Bewusstsein über gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge ja an der Uni oder am Arbeitsplatz. In meinem Fall war das an der Universidad del Valle. Dort wurde mir die soziale Ungerechtigkeit in Kolumbien bewusst, die an vielen Orten unseres Subkontinents eine systematische Geschichte hat, die mit den Interessen nationaler und transnationaler Akteure zusammenhängt. Aus diesem Bewusstsein entwickelte sich in meiner Studienzeit ein Kampf – zuerst sehr persönlich. Schließlich habe ich beschlossen, dass dieser Kampf mein Platz in der Welt zum Sein, zum Denken und zum Fühlen ist. Das alles war vor dem 28. April 2021. An diesem Tag haben uns die Indigenen eine große Lektion erteilt: Dass Dinge geschehen, wenn man sie selbst in die Hand nimmt. Die Indigenen haben für das Niederreißen der Statue des sogenannten Gründers von Cali, Santiago de Cali, gesorgt. In dem Moment, als diese Statue fiel, fingen wir an, unser Anti-Denkmal, die Hand der Würde, zu errichten. Mit allem, was wir heute tun, knüpfen wir an die Kämpfe unserer indigenen Vorfahren an, die wir niemals begraben und vergessen können. Puerto Resistencia ist heute zu unserem Territorium geworden, auf dem wir diese Erfahrungen gemeinsam mit kämpferischen Menschen säen und düngen.

Wer sind die Leute links und rechts von euch, wenn ihr in der primera línea steht?
Nahuel: Die Revolte haben wir Oberstufenschüler angefangen, indem wir über die Drehkreuze der U-Bahn gesprungen sind und das ganze Land aufgeweckt haben. Aber in der primera gibt es alles. Oft sehen wir uns gegenseitig nur vermummt. Da weißt du nicht viel über die anderen – nur, dass die anderen Gefährten im Leben und im Kampf sind. Man riskiert sein Leben füreinander und denkt trotzdem kaum darüber nach, mit wem man dort ist. Oft sind es junge Menschen wie ich, aber es gibt auch Ältere, Arbeiter und so weiter. Von den Leuten, mit denen ich organisiert bin, kann ich sagen, dass wirklich alle mitmachen, auch Frauen, Queers, trans Personen, nicht-binäre Personen.

Profe: Das war in den Tagen von Puerto Resistencia auch so. In der primera línea verbündeten sich frühere Feinde, bauten gemeinsam dieses Anti-Denkmal auf und errichteten Barrikaden. Es gab eine 500 Meter lange Barrikade, die sich weder die Polizei noch andere Sicherheitsorgane zu durchbrechen trauten, weil dahinter so viele Menschen waren: 24 Stunden am Tag, 90 Tage lang. Da gab es Leute, die endlich die T-Shirts feindlicher Gruppen ablegten und beschlossen, ihre gewalttätigen oder sogar tödlichen Auseinandersetzungen beiseite zu lassen, um Puerto Resistencia aufzubauen.

Und natürlich dürfen wir den Beitrag der Mütter und Tanten in der Küche, beim Kochen und bei der Wäsche nicht vergessen. [Zeigt auf ein kleines Haus] Dort in diesem Häuschen hatten wir unsere improvisierte Krankenstation. Da gab es alles von Notfallsanitätern bis hin zu ausgebildeten Ärzten, sogar Chirurgen. Besonders bemerkenswert war die Hilfe der Bauarbeiter: Statt nach 14-Stundenschichten nach Hause zu gehen, kamen sie danach zu uns und halfen beim Bauen.

Wände machen Mut “Halte durch, primera línea!” (Foto: Ute Löhning)

Und wie versteht ihr euch mit den Protestierenden außerhalb der primera línea?
Nahuel: Das kommt sehr auf die Protestierenden an. Mich nervt es, wenn Leute auf Demos Alkohol trinken oder kiffen. Das ist nicht der richtige Ort dafür. Manchmal gab es auch nervige Diskussionen um Gewalt. Und trotzdem sorgt man sich natürlich um die Menschen hinter einem: um die Kinder, die Eltern, die alten Leute. Denn auch sie sind ja Gefährten im Kampf. Oft bilden sie die zweite Reihe und sind in den kritischen Momenten für uns da.

Profe: Also in Puerto Resistencia gibt es diese Unterscheidung gar nicht. Die primera línea sind wir alle, primera línea steht für Gemeinschaft. In der primera línea kommen alle zusammen, die für den Kampf um Würde und soziale Gerechtigkeit aus dem Schatten getreten sind. Da wird nicht zwischen den einen und den anderen unterschieden. Und wenn es Gewalt bei Aktionen gab, dann weil sie zur Verteidigung nötig war.

War das schon immer so?
Profe: Die Geschichte der primera línea begann dem Mythos nach vor ungefähr fünf Jahren an der Universidad Nacional de Colombia, der größten Uni des Landes. Dort haben sich ein paar junge Typen ohne militärische Ausbildung und ohne Erfahrung mit Gewalt und Konfrontation zusammengetan, um die Demos zu schützen: gegen die Waffengewalt des Staates, ganz besonders gegen die ESMAD. Die primera línea hatte Gasmasken, Schilder und Bleche dabei – und war gewillt und naiv genug, ihre Leute, die Protestierenden, zu schützen. Damals wurden sie belächelt wie der Albatros im Gedicht von Baudelaire. Heute, nach fünf Jahren, fliegt die primera línea wie ein freier Albatros. Heute werden wir mit Respekt behandelt und die Vertreter von Unternehmen verhandeln mit uns. Wir haben die Vermummung abgenommen. Deshalb sagen wir auch offen, dass wir alle primera línea sind. Stimmts?

Junge aus dem Off: Ich bin primera línea!

Profe: Der Freund hier ist gerade mal 15 Jahre alt und schon unser Menschenrechtskoordinator. Als Mensch, der das alles am eigenen Leib erlebt hat, erfüllt er alle Voraussetzungen, die es für diese Arbeit braucht. Dazu muss er heute unsere Verfassung nicht verstehen oder irgendwelche Artikel lesen – das kommt mit der Zeit. Ich verstehe das als zweite Phase unseres Widerstands: Heute nimmt fast die ganze primera línea an Kursen zu Menschenrechten und politischer Mitbestimmung teil, holt ihre Abschlüsse nach.

Aber habt ihr keine Angst vor Repression?
Profe: Wir haben die Angst verloren. Denn unsere Träume von einem Leben in Würde fliegen hoch wie der Albatros, von dem ich vorhin sprach – zu hoch für die Angst. Das heißt nicht, dass es keine Repression gibt. Wir beobachten, dass Leute aus der primera línea verschwinden oder für Taten verurteilt werden, für die es gar keine Beweise gibt. Manchmal landen sie auch ohne Verurteilung im Gefängnis. Wir aus Puerto Resistencia haben angesichts der willkürlichen Hinrichtungen der Staatsgewalt die Garantie unserer Rechte gefordert – aber das hat zu nichts geführt, denn Präsident Duque ist eine Marionette des Uribismus. Und vom Uribismus kennen wir die Stimmen der 6.402 falsos positivos – unschuldige Jugendliche, die entführt, ermordet und als angebliche von der Armee getötete Guerrilla-Kämpfer dargestellt wurden. Diese Art staatlicher Gewalt gibt es nur in Kolumbien.

Ich selbst bin schon drei Mal Opfer der Staatsgewalt geworden: Meine Freundin wurde von Militärs ermordet, mein Vater von Paramilitärs, weil er Gewerkschafter war. Und im Juni wurde mein Neffe von Polizisten in den Rücken geschossen, als er mit seinem Roller bei Rot über eine Ampel fuhr. Ihm geht es langsam besser, aber eine Zeit lang war er vom Nacken abwärts gelähmt. Trotz dieser Erfahrungen steht für meine Familie fest: Wir werden weiterhin unser Gesicht zeigen und unsere Geschichten erzählen. [Zeigt auf eine Ecke des Platzes] Guckt mal, da drüben sitzt die ESMAD. Sie spielen dort rund um die Uhr auf ihren Smartphones. Der einzige Grund, warum sie hier sind, ist, dass es eine angebliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit gibt. Die ESMAD ist eine systematisch mörderische und kriminelle Institution, die zur Unterdrückung von Protesten geschaffen wurde. Selbst hohe Richter in diesem Land geben zu, dass sie Gewalttäter und Mörder sind. Aber trotzdem wurde bisher keiner von ihnen verurteilt. Warum? Weil sie alle die gleiche schwarze Uniform tragen und es nicht möglich sei, zu sagen, wer von ihnen genau für die grausamen oder sogar tödlichen Handlungen gegen Protestierende verantwortlich ist. Da kommt es zu Gewaltexzessen: Die Leute verlieren ihre Augen oder Gliedmaßen.

Nahuel: Ja, so wie ich. Sie standen auch schon vor meiner Tür und wollten mich festnehmen. Das Justizsystem in Chile ist das Letzte. Und die Bullen werden immer mehr und die Demonstrierenden weniger. Sie haben auch neue Kampfmittel, riesige Wasserwerfer, gigantische LKWs, da wird die Repression immer stärker. Aber wir bleiben trotzdem auf der Straße, das sehen wir als unsere Pflicht den Menschen gegenüber an.

Was erhofft ihr euch davon für die Zukunft?
Nahuel: Ich setze absolut keine Hoffnung mehr in die politischen Parteien dieses neoliberalen Systems. Der wichtigste linke Kandidat für die kommenden Präsidentschaftswahlen ist Gabriel Boric. Das war der, der während der Revolte Piñeras Präsidentschaft gerettet hat, als er mit der Rechten paktiert hat. Und auch im Verfassungskonvent sitzen die gleichen, all das wird in Chile nichts ändern. Deshalb ist meine Hoffnung, dass die Leute wieder auf die Straße gehen und Chile wieder erwacht. Mit dieser Regierung, mit der Rechten werden wir nicht verhandeln, denn sie und ihre neuen Gesetze sind dafür verantwortlich, dass unsere Freunde im Knast sitzen. Also müssen wir wieder auf die Straße – es ist das einzige Mittel, das uns bleibt.

Profe: Das ist hier ein bisschen anders. Wir stellen sogar Kandidaten für den Jugendstadtrat auf und werden unsere Unterstützung für bestimmte Kandidaten öffentlich machen. Eigentlich sind sich alle Widerstandsorganisationen, nicht nur hier in Cali, sondern in ganz Kolumbien, darin einig, dass sie die Präsidentschaftskandidatur von Gustavo Petro und die Koalition Pacto Histórico unterstützen, also die Parteien, Bewegungen und Organisationen, die sich gegen das uribistische System stellen. Damit will ich nicht sagen, dass ganz Puerto Resistencia Petro- oder Pacto Histórico-Anhänger ist, aber dass sich die Menschen hier am ehesten mit den politischen Vorschlägen und progressiven humanistischen Ideen identifizieren können, die Gustavo Petro vorbringt. Wir wollen in dieser politischen Debatte nicht schweigen, denn es geht um unsere Zukunft.

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