Frische Fische vom Silberfluss
Ein Facettenreicher Erzählband vereinigt argentinische, uruguayische und paraguayische AutorInnen
Es war eine wahre Flut von Veröffentlichungen argentinischer Literatur, die sich im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit dem Frankfurter Buchmessenauftritt des südamerikanischen Landes auf den hiesigen Buchmarkt ergoss. Die letzte Publikationswelle spülte ein interessantes Werk ans deutsche Ufer, das sich explizit der jungen Literatur widmet: Neues vom Fluss nennt sich die Anthologie, die im Oktober im Berliner Lettrétage-Verlag erschienen ist. Der Titel ist dabei Programm, vereinigt der Erzählband doch insgesamt 27 Geschichten, die der Kenner argentinischer Literatur Timo Berger auf einer Reise entlang des mächtigen Río de la Plata gesammelt hat. Dabei sah er sich nicht nur flussabwärts beim viel beachteten Buchmessengast um, sondern warf auch an den anderen Ufern des Stroms und seinen Zuflüssen in Uruguay und Paraguay die Netze aus. Herausgekommen ist ein bunter Fang von Geschichten, die den LeserInnen auf eine thematisch wie stilistisch facettenreiche Flussfahrt mitnehmen.
Zu bestaunen gibt es Texte, die wilden Strudeln gleichen, wie etwa Juan Terranovas skurrile Erzählung „Männer springen in Raubtierkäfige“, die den Sound der in den 1990ern aufgewachsenen Postdiktatur-Generation wiedergibt. Für dessen gassenphilosophischen Protagonisten ist die Gesellschaft „ein nicht enden wollendes, paranoides Gesellschaftsspiel, ein Versuchslabor, in dem Mutter Natur ihre Qualitätsstandards über den Haufen wirft, um zu sehen, was passiert“. Die Suche nach dem Kick einer „Schaumgummidroge“ treibt dagegen junge Frauen in Cecilia Pavóns „I want to be fat“ um: Jeden Freitag verwandelt sich eine Gruppe junger Argentinierinnen mit Hilfe von Schaumstoffstücken in dicke Frauen, um die schicken Clubs von Buenos Aires zu ihrer subversiven Bühne zu machen. Für sie „gibt es keine wirkungsvollere Droge als den Blick des Nächsten, wenn dich dieser in die avantgardistische Position eines Freaks erhebt“. Den umgekehrten, aber nicht minder radikalen Weg wählt Ana María Strahms Protagonistin in „Calle Palma“. Diese marschiert gleich ganz ohne Kleidung über den Boulevard von Paraguays Hauptstadt Asunción – um durch ihren Auftritt, der durch alle Medien des Landes geht, eigentlich nur einen einzigen Mann auf sich aufmerksam zu machen.
Schrill, rasant und vor allem unerhört originell sind die Begebenheiten, um die viele Texte kreisen. Neben viel Sex, Drugs und Rock’n Roll führt die literarische Flussfahrt aber auch durch stille Gewässer, wie etwa in der Erzählung „Das Gewicht des Hasses“ von Seghers-Preisträger Félix Bruzzone, in der die immer noch langen Schatten der argentinischen Militärdiktatur auftauchen.
Anthologien und Rezensionen von Anthologien teilen ein gemeinsames Schicksal: Sie sind notwendig selektiv und verkürzend, aber im besten Fall sind sie wie ein schönes Flussufer, das Lust macht, von Bord zu gehen und das Hinterland zu entdecken. Timo Berger ist das mit seinem imposanten Fang der frischen literarischen Fische vom Silberfluss auf vorzügliche Weise geglückt.
Timo Berger // Neues vom Fluss: Junge Literatur aus Argentinien, Uruguay und Paraguay // Verlag Lettrétage // Berlin 2010 // 200 Seiten // 12,90 Euro // http://www.lettretage.de