Brasilien | Musik | Nummer 583 - Januar 2023

“FUNK HAT EINE SYMBOLISCHE MACHT”

Interview mit dem Kriminologen Danilo Cymrot zur Bedeutung des Funks in Brasilien

So gespalten wie die brasilianische Gesellschaft heute in vielen Bereichen erscheint, so zwiespältig steht sie auch dem Funk gegenüber. Über dessen Ursprung und das Spannungsfeld zwischen Kriminalisierung und kultureller Anerkennung sprachen LN mit dem Kriminologen Danilo Cymrot.

Interview & Übersetzung: Lisa Pausch

Danilo Cymrot ist 36 und Soziologe aus São Paulo. 2022 veröffentlichte er das Buch O funk na batida: Baile, rua e parlamento. Er macht unter dem Namen „Danilo Dunas“ selbst Musik. (Foto: Lisa Pausch)

Warum beschäftigen Sie sich als Strafrechtler mit dem Funk?

Es gibt in der Kriminologie zwei Strömungen, die mich interessieren. Eine von ihnen ist die Subkulturtheorie. Sie beschäftigt sich mit Gangs in den Städten und Jugendkriminalität. Junge Leute treffen sich zu Gewalttaten, randalieren. Diese Forschung entstand in den USA in den 50er Jahren, als der Rock aufkam. Ich sage gerne, der Funk ist unser Punk. Eine andere Strömung ist der Etikettierungsansatz, er verschiebt den Fokus weg von der Frage „Warum begehen Menschen Verbrechen?” hin zu der Frage „Warum werden bestimmte Verhaltensweisen als kriminell eingestuft?“

Warum also wird in Brasilien ein Musikstil wie der Funk immer wieder als kriminell eingestuft?

Das begann in den 90er Jahren. Der Funk hatte mit dem Album „Funk Brasil“ von DJ Marlboro zum ersten Mal seine eigenen Texte auf portugiesisch. Er war erfolgreich in den Favelas von Rio de Janeiro, wurde aber von der kulturellen Elite ignoriert. Das änderte sich mit dem 18. Oktober 1992. An dem Tag passierte etwas an dem Strand Arpoador im Viertel Ipanema in Rio de Janeiro, einer noblen Gegend: ein mutmaßlicher „Raubzug“. An diesem Tag trafen sich zwei rivalisierende Gruppen aus Parada de Lucas und Vigário Geral, das sind zwei Viertel im Norden Rios. Sie trugen für gewöhnlich ihre Wettstreite auf den bailes im Norden der Stadt aus. Nun trafen sie sich am Strand und begannen zu raufen. Es war mehr eine Mischung aus Streit, Tanz und Witzeleien. Nur war das mehrheitlich weiße Publikum solche Szenen nicht gewöhnt. Es gab in den südlichen Vierteln bereits ein Klima der Intoleranz gegenüber jungen Schwarzen Menschen. Der Strand sollte eigentlich ein Ort der Demokratie in der Stadt sein, aber für die Anwohner der geschlossenen Wohnanlagen der Zona Sul war der Strand wie eine Verlängerung der eigenen Balkons. Sie sahen sich und die Touristen als die legitimen Flanierer an den Stränden. Als sich also eine Gruppe junger Schwarzer Menschen traf, um am Strand zu laufen und sich zu raufen, wurde die Polizei gerufen. Sie vertrieb die Jugendlichen, die liefen weg, die Polizei ihnen nach. Die Medien verbreiteten diese Bilder, als hätte es sich um einen Raubzug gehandelt. Das war der erste Moment, in dem viele Leute zum ersten Mal Kontakt mit der Funkszene hatten. Von da an war der Funk für sie keine kulturelle Ausdrucksform, sondern eine Sicherheitsangelegenheit, und Baile Funks wurden immer wieder als Orte von Kriminalität gesehen.

Welche Rolle spielen Texte, wenn sie von Gewalt und von Drogen handeln?

Die Texte sind ein Element, das eine Kriminalisierung zwar nicht rechtfertigt, aber erleichtert. Der Funk Proibidão etwa ist ein Subgenre, das von kriminellen Gruppen spricht, oft auf schmeichelhafte Art und Weise. Die MCs (Anm. d. Red.: Master/Mistress of Ceremonies, eine Eigenbezeichnung von Sprechgesangskünstler*innen) verteidigen sich damit, dass sie sagen, sie singen und erzählen ja nur von der nackten Realität. Und wenn ein MC auf einer Baile Funk Party über Drogengangs singt, bekommt er schnell Probleme mit Polizei und Justiz. Ihm wird dann vorgeworfen, mit seinem Gesang die eigenen Drogenverkäufe ankurbeln zu wollen.

Es ist ein fiktives Werk, auch wenn es von der Realität inspiriert ist. Der Autor darf nicht mit dem lyrischen Ich verwechselt werden. Der Autor darf übertreiben, fantasieren, das ist ganz normal im Funk. Manchmal hat der MC nicht mal eine Verbindung zum Drogenhandel. Woher kommt dann dieser Bezug zum Drogenhandel? Es bringt Glamour, weil es eine Verbindung von Gewalt und Macht gibt und jeder gerne als mächtig angesehen wird. Die Gang repräsentiert die Gemeinschaft, viele junge Leute sind selbst Opfer von Polizeigewalt geworden. Funk hat in dem Sinne auch eine symbolische Macht, um zurückzuschlagen. Wenn man schon die Gewalt, die man erlebt, nicht direkt zurückgeben kann, dann kann man das auf einer kulturellen, symbolischen Ebene.

Sie ziehen auch den Vergleich zum Gospel …

Rio de Janeiro ist eine Stadt mit einem hohen Anteil an Schwarzer Bevölkerung und eine der evangelikalen Städte in Brasilien. Man sieht hier viele junge Schwarze Menschen, die in die Kirchen gehen und viele von ihnen könnten sogar eine Verbindung zum Drogenhandel haben. Es gibt viele evangelikale Dealer. Es gibt auch im Gospel den Vorwurf, dass die Drogenhändler Shows finanzieren, nichtsdestotrotz wird der Gospel nicht kriminalisiert. Niemand wird hingehen und eine Kirche schließen.

Welche Rolle spielen die Sinnlichkeit des Funks, der Hüftschwung und die expliziten Texte zu Sexualität im Funk Putaría etwa?

Eine große Rolle. Schon im 19. Jahrhundert wurden in den Zeitungen die Musikstile Lundu und Maxixe angegriffen, also Musikstile der afrikanischen Disapora in Brasilien. Schwarzen Menschen wurde vorgeworfen, pornografisch zu sein und unanständig zu tanzen. Warum? Erstens, weil die Beziehung der europäischen Weißen zum Körper komplett anders war als die Schwarzer Menschen. Schwarze Musik legte traditionell viel Wert auf Rhythmus, Schläge, nicht nur Harmonien und Melodie. Und so ein markanter Rhythmus bringt die Leute zum tanzen. Das wurde beim weißen Bürgertum als etwas Unanständiges angesehen, sie wollten ja die europäischen Gewohnheiten imitieren. Die koloniale Elite betrachtete diese populäre Musik mit Verachtung, so war das auch mit dem Funk. Der Funk Putaría spricht offen über Sex. Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft scheinheilig mit ihrem moralischen Zeigefinger – es ist eine der Gesellschaften, die am meisten Pornografie konsumiert und gleichzeitig homophob und transphob ist.

Es gab erst viel später Gesetzesvorschläge, die den Funk formell kriminalisieren sollten.

Das erste Mal im Jahr 2017, als ein ganz normaler Bürger den Funk als Delikt gegen die öffentliche Gesundheit und die Jugend einstufen lassen wollte. Im Jahr 2020 wurde der Funk in einen Gesetzesvorschlag von Junio Amaral aufgenommen. Amaral ist ein Abgeordneter der extremen Rechten. Er wollte die Aufführung von Baile Funks unter freiem Himmel kriminalisieren, wenn sie ohne Zustimmung der öffentlichen Behörde stattfinden. Also was heute eine Ordnungswidrigkeit ist, sollte ein Verbrechen mit einer Haftstrafe werden.

Die Gesetze sind aber nie weit gekommen. Warum?

Sie sind gescheitert, weil in Brasilien – anders als in den USA – nur der Nationalkongress Änderungen im Strafrecht vorschlagen kann. Kein Landtagsabgeordneter, kein Gouverneur, kein Präsident. Wenn aber in der Öffentlichkeit Stimmung gegen den Funk gemacht wird, dann gibt es politische Opportunisten, die solche Gesetzesvorschläge machen, um bestimmte Wähler anzusprechen und zu zeigen, dass sie den Funk bekämpfen. Sie können den Funk nicht formell kriminalisieren, weil sie die legale Kompetenz dazu nicht haben. Aber sie können auf das Verwaltungsrecht zurückgreifen.

Und die Hürden für Baile Funks einfach hochschrauben?

Ja, sie können zum Beispiel die Zustimmung der Militärpolizei einfordern oder eine Vorlaufzeit von 30 Tagen sowie Sicherheitskameras, Metalldetektoren, Krankenwagen und Feuerwehr. Doch haben die meisten Veranstalter von Baile Funk Partys nicht die Mittel dafür, um all das aufzubringen. Wie sollen sie denn den Lärm isolieren? Doch wenn sie die Auflagen nicht erfüllen, kann der Baile Funk aufgelöst werden. In São Paulo wurde im Dezember 2019 ein Baile Funk mit Tränengas und Gummigeschossen aufgelöst, neun Jugendliche wurden dabei getötet. Es gibt viele Beispiele, auch in São Paulo, von Baile Funks, die auf unverhältnismäßig gewalttätige Weise aufgelöst wurden, weil sie solche Auflagen nicht erfüllt haben.

Wird sich die Situation für Funk-Künstler*innen nach dem Regierungswechsel nun verbessern?

Nicht notwendigerweise. Das Drogengesetz aus dem Jahr 2006 ist noch das Erbe einer Regierung, die sich als links und progressiv gesehen hat: Der Regierung von Lula und Dilma. Gerade unter Linken ist das daher ein heikles Thema, weil man sich nicht gerne selbst kritisiert. Die Gesetzesänderung ließ der Polizei und der Justiz mehr Spielraum – sie konnte Menschen als Konsumenten oder Dealer einordnen und je nachdem folgte eine Freiheitsstrafe oder eben nicht. Es geht dabei nicht unbedingt um die Menge an Drogen, sondern auch um die Umstände. Eine weiße reiche Person, die mit einer großen Menge Drogen entdeckt wird, wird immer sagen, dass sie das selber konsumiert. Die Chance, dass eine arme Schwarze Person, die mit der gleichen Menge Drogen entdeckt wird, als Dealer durchgeht, ist viel größer. Auch in meiner Forschungsarbeit habe ich gesehen, dass etwa die Tatsache, sich mit einer Funk-CD in Richtung eines Baile Funks zu begeben, von der Justiz schon als Anzeichen gelesen werden kann, dass man Teil einer kriminellen Vereinigung ist. Als ich das gesehen habe, war ich schockiert. Ein junger Mensch der Mittel- und Oberschicht kann Drogen konsumieren in schicken Bars, in die die Polizei nie einen Fuß setzen wird.

Gleichzeitig gab es Gesetzesvorschläge, um den Funk als Kultur anzuerkennen. Die Politikerin Marielle Franco, die 2018 in Rio de Janeiro ermordet wurde, war selbst Funktänzerin und hat sich für eine Anerkennung eingesetzt.

Ja, es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der Regierung unter Lula und der Regierung unter Bolsonaro. Der Funk wird von der linken Seite eher als Kultur anerkannt. Die meisten Gesetzesvorschläge, die den Funk als Kultur anerkennen, kommen von linken Parlamentariern – inzwischen aber auch von rechts.

Eine der bekanntesten Abgeordneten in diesem Zusammenhang ist wohl Verônica Costa, sie macht als Mãe Loira do Funk selber Funk und war mit dem Produzenten der Furacão 2000 (bekannte Funk-Produktionsfirma) verheiratet. Oder Rodrigo Amorim, der dafür bekannt wurde, dass er ein Schild zur Erinnerung von Marielle Franco zerstörte. Er sprach sehr schlecht über den Funk Proibidão, aber machte gleichzeitig einen Gesetzesvorschlag, der die Funkkultur würdigte – er teilt den Funk ein in „gut“ und schlecht“. Der Funk ist geteilt, wie auch Brasilien. Es gibt Funkeiros, die auf der Seite von Bolsonaro stehen. Der gleiche Staat, der den Funk kriminalisiert, sucht auch den Dialog mit den Funkeiros. Das Kultursekretariat ist für den Funk, das Sicherheitssekretariat dagegen.

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