Musik | Nummer 528 - Juni 2018

POLITISCHES MARMELADENBROT

Interview mit Benjamin Rodriguez und Saïdou von Sidi Wacho

Interview: Susanne Brust


Ihr habt euer neues Album Bordeliko genannt. Was heißt das für euch?
Saïdou: Bordeliko steht für das Durcheinander. Wir als Band verstehen uns als kleines Chaos: Unser Alltag, unsere Art zu arbeiten und zu leben, all das ist manchmal ziemlich verrückt und durcheinander. Wenn wir das Chaos nennen, ist das nicht negativ gemeint. In dem Begriff steckt Ironie, aber vor allem Liebe für das, was wir tun. Schließlich ist auch unsere Band ein wunderbares Durcheinander.

Ist das Durcheinander manchmal kompliziert?
Saïdou: Ja, aber nur für die Leute, die von außen auf unsere Musik gucken. Im modernen Musik-Business wollen sie dir ein Etikett geben und dich in eine Schublade stecken, damit sie deine Musik groß verkaufen können. Mit uns geht das nicht, das ist manchmal auch schwer.
Benjamin: Genau. Wenn Leute zum Beispiel fragen: Was für Musik macht ihr eigentlich?
Saïdou: Dann wissen wir am Ende selbst nicht wirklich, was wir machen.

Ihr kommt teilweise von verschiedenen Kontinenten, eure Musik passt aber überraschend gut zusammen. Wie schafft ihr das?
Benjamin: Das ist viel Arbeit. Aber Arbeit, die Spaß macht und die wir gern machen. Durch unsere unterschiedlichen Identitäten und Lebenswege ergeben sich unglaublich viele Möglich­keiten für die Musik. Ich bin in Chile mit Cumbia aufgewachsen. Die anderen spielen Akkordeon und Trompete, waren z.B. auf dem Balkan unterwegs. In unseren Rhythmen finden sich aber auch Salsa, Guaguancó und Timba wieder. Und das alles mischt sich dann mit der modernen Musik, die vor allem Saïdou mitbringt und die auch in manchen Beats zu hören ist. Unsere Musik ist nicht nur international, sie mischt auch Traditionelles mit Modernem.
Saïdou: Unser Stil basiert auf der Ausdrucksfreiheit jedes Einzelnen von uns. Das ist eine der Identitäten von Sidi Wacho. Ich sage immer, wenn wir untereinander gerecht sein wollen, müssen wir vor allem ehrlich sein. Wir lernen beim Zusammenarbeiten, miteinander und unseren verschiedenen Stilen umzugehen. Als Band sind wir ein kleiner Spiegel dieser Erde, die sich genauso ausbalancieren muss.

Versteht ihr euch als politische Band?
Saïdou: Nein. Und es stört mich, wenn Leute das sagen. Wir machen keine politische Musik, es ist nur so, dass der Großteil der modernen Musik so bedeutungsleer ist. Aber ich fühle mich im Kontrast nicht politisch, sondern ganz normal. Denn ein normaler Musiker sollte von seinem Leben und den Ungerechtigkeiten darin erzählen. Deswegen muss man nicht extra betonen, dass Musik politisch ist. Jede Musik sollte es sein.
Benjamin: Das finde ich auch. Im Großteil der Musik, die wir hören, wird nichts gesagt. Für die Musikproduktion bedeutet das, dass alles schnell und einfach geht. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber der Großteil der modernen Musik wird produziert wie Fastfood. Wir sagen dazu Wegwerfmusik. Das ist genau das, was wir nicht machen wollen. Wir als Musiker sehen uns als Angestellte der Kunst. Und solche wie wir werden nie große Stars. Abgesehen davon finde ich aber, dass wir über alles Musik machen können: Das fängt bei ganz banalen Dingen wie einem Marmeladenbrot an.

Kann ein Lied über ein Marmeladenbrot auch politisch sein?
Saïdou: Theoretisch ja. Manchmal ist es politisch, das Licht auf ein neues Thema zu werfen. Genauso politisch kann es aber sein, ein Licht wieder auszuknipsen.

Wie entscheidet ihr, welches Licht ihr an- oder ausschaltet?
Saïdou: Wir sind eine sehr internationale Band: Benjamin ist Chilene, unser Percussionist kommt aus Peru. Ich bin als Sohn algerischer Eltern in Frankreich aufgewachsen. Unser Akkordeonist und unser Trompeter haben Eltern aus Italien, Frankreich und Katalonien. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass es eine gemeinsame Grundausrichtung innerhalb der Band gibt. Wir teilen eine Perspektive des geografischen und politischen Südens und denken aus klar antikolonialer und antiimperialistischer Perspektive. Wenn das einmal geklärt ist, ist es sehr leicht, auch zusammen Musik zu machen. Das Album haben wir in weniger als drei Monaten produziert.
Benjamin: Meistens fällt es uns sehr leicht, uns für ein Thema zu entscheiden und loszutexten. Vor der Produktion waren wir ein Jahr lang unterwegs. Wenn wir dann produzieren, schließen wir uns ein und lassen alles aus uns raus, was wir in der Zeit gesammelt und verarbeitet haben.

Ihr spielt den Sommer über auf Festivals in ganz Europa. Spielt der Ort für euch eine Rolle?
Benjamin: Überall auf der Welt gibt es Unterdrücker und Unterdrückte. Wir wollen an jedem Ort für die spielen, denen es nicht so gut geht. Deswegen ist das neue Album auch so fröhlich. Wenn wir unterwegs sind wird mir immer wieder klar, dass Menschen weltweit leiden oder irgendwann einmal gelitten haben. Wie beispielsweise die Menschen in Chile unter Pinochet. Momente des Leids verbinden, Momente der Freude aber auch.
Saïdou: Wir alle brauchen Spaß, um unseren Kopf freizumachen. Und wie geht das? Mit wem? Bestimmt nicht, indem wir den erstbesten kommerziellen Fernsehsender anschalten.

Wie dann?
Saïdou: Als Künstler können wir das anderen und uns selbst ermöglichen. Musik ist ein Teil der populären Bildung. Mit Musik können wir uns von der Arbeit, der Routine und dem Stress erholen, den Kopf freimachen und den Körper entspannen. Die Kunst im Allgemeinen hat diese Kraft. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass wir auch ohne Konsum Spaß haben und Kunst genießen können. Wir leben in einer Konsum- und Klassengesellschaft. Nachdem wir gegen diese Strukturen protestiert haben, gehen wir zusammen tanzen und feiern.

Saïdou: Ja. Der neoliberale Prozess, der in Frankreich wie in so vielen Ländern stattfindet, nimmt immer mehr Bereiche unseres Lebens ein. Viele ärmere Menschen glauben zum Beispiel, dass Uber ihnen eine gute Möglichkeit bieten kann, Geld zu verdienen. Genauso funktioniert der Liberalismus. Am Ende ist es genau umgekehrt: Die Armut bleibt erhalten. Viele junge Menschen haben in Frankreich Macron gewählt, weil er ihnen Freiheit versprochen hat. Hier geht es aber nicht um Freiheit (libertad), hier geht es um Liberalismus (liberalismo). Diese beiden Dinge kann man nicht gleichsetzen.
Benjamin: Ich finde vor allem die Denkweisen besorgniserregend, die hinter diesen Wahlergebnissen stecken. In Chile, aber auch in Frankreich, kehren viele Menschen in bestimmte Denkmuster zurück. Es geht nur um das Haben, um das Besitzen, um den Gewinn. Das ist ein globales Problem, wir sehen es in Lateinamerika genauso wie in Europa. Das macht mich traurig. Gleichzeitig sehe ich viele Dinge, die mir Freude bereiten: Optimismus und gemeinsamer Widerstand gegen kapitalistische und neoliberale Positionen, der sich beispielsweise in Form von Graffitis und Demonstrationen äußert. Daran sehe ich, dass auch andere Menschen anders denken. Genau die möchten wir unterstützen. Und sei es, indem wir nur nach einer Demonstration unsere Musik spielen.

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