Nummer 294 - Dezember 1998 | Theologie der Befreiung

Gegen gesellschaftliche Ausgrenzung

Basisgemeinden zwischen Kirche und politischer Beteiligung

Der chilenische Soziologe und Theologe Fernando Castillo hat in und mit chilenischen Basisbewegungen gelebt und gearbeitet, gleichzeitig den Blick „über den eigenen Tellerrand“ gepflegt und den Austausch über kontinentale Grenzen hinweg gesucht. Er war ein Freund und kritischer Begleiter der Arbeit des Instituts für Theologie und Politik. Im November 1997 – viel zu früh – ist er im Alter von 54 Jahren gestorben. Zur Zeit wird die Veröffentlichung einer Sammlung von Aufsätzen Castillos in deutscher Sprache im Verlag Edition Exodus vorbereitet. Dazu gehört auch dieser – überarbeitete und stark gekürzte – Aufsatz über Basisgemeinden.

Fernando Castillo

Basisgemeinden sind ein Beispiel für Beteiligung der armen städtischen und ländlichen Bevölkerung am politischen und gesellschaftlichen Leben. Tatsächlich liegt die soziale und politische Bedeutung der Basisgemeinden darin, daß von ihnen die Beteiligungsversuche dieser Bevölkerungssektoren am politischen und gesellschaftlichen Leben in den letzten Jahrzehnten ausgingen. Die Erfahrungen aus den Beteiligungsversuchen werden in den konzeptuellen, symbolischen und praktischen Horizont der Basisgemeinden integriert und bilden ihre christliche Identität. Sich zur katholischen Kirche zugehörig zu fühlen, ist eine bestimmte Weise, das Christentum zu verstehen.
In Chile fand der soziale und politische Aufschwung der Basisgemeinden zwischen 1975 und 1988 statt. Er fiel also genau in die Zeit der Diktatur. Der Kontext ist die Welt der marginalisierten Armen unter den Bedingungen von Diktatur, deren politisch-ökonomische Auswirkungen, Repression und Verletzung der Menschenrechte. Es ist ein Kontext, der nachdrücklich und prägend durch den Ausschluß der Armen gekennzeichnet ist. Wer diese konkrete Situation nicht mitdenkt, kann die Erfahrungen der Solidarität, der Mobilisierung, des Kampfes, aber auch des Schreckens usw. nicht verstehen, die die Identität der Basisgemeinden prägten.
Der wahrscheinlich allgemeinste Wesenszug der Welt des Volkes in dieser Zeit war die Angst und das Gefühl der Unsicherheit und der Gefährdung. Die Repressionspolitik kombinierte Formen „selektiver“ und „massiver“ Politik und zielte damit nicht nur auf die Zerstörung politischer, sondern auch sozialer Organisationen und darauf, durch Angst die Artikulationsmöglichkeiten der Volkssektoren zu paralysieren. Die Wirtschaftspolitik ihrerseits trug zu einer zunehmenden Verschlechterung der Situation der Armen bezüglich der Einkommensverhältnisse, der Wohnsituationen, der Gesundheitsversorgung und der Bildungschancen bei.
Will man die Erfahrungen von Basisgemeinden beschreiben, muß man ihre Zusammensetzung und ihre Praxis einbeziehen. Welche Menschen sind in den Basisgemeinden zu finden? Im Fall von Santiago de Chile kam der größte Teil von ihnen aus dem Kreis der „Ausgeschlossenen“, der Excluidos: Arbeitslose, SaisonarbeiterInnen oder im informellen Sektor Beschäftigte, ein großer Teil Frauen, was mit kulturellen, durch die Religion bedingten Gründen und den Geschlechterverhältnissen zusammenhängt. Seit der Zeit der Protesttage Anfang der 80er Jahrer gab es auch eine zunehmend gewichtige Teilnahme von Jugendlichen in den Basisgemeinden. Anderswo sieht es mehr oder weniger ähnlich aus: Dort setzten sich die Basisgemeinden aus Indígenas, Bauern und armen und ausgeschlossenen Stadtrandbewohnern (Pobladores) zusammen. In der Regel hatten diese Menschen vorher keine Partizipations- oder Organisationserfahrungen in Gewerkschaften, Parteien oder Nachbarschaftsorganisationen.
In diesem Kontext entwickelten eine beträchtliche Anzahl von Basisgemeinden Initiativen und Praxen, die daran orientiert waren, die drängendsten Probleme anzugehen. Das Gros dieser Praktiken kann in zwei Stichworten zusammengefaßt werden: Solidarität und Menschenrechte. Für beide Bereiche war die Unterstützung der Institution Kirche sehr wichtig. Es wurden Initiativen gegen die extreme ökonomische Situation und gegen die Lebensbedrohungen der pobladores entwickelt, zum Beispiel Gemeinschaftsküchen, gemeinschaftlicher Einkauf, Nachbarschaftskomitees, Gesundheitsgruppen, Arbeitsloseninitiativen. Im Bereich Menschenrechte organisierten die Basisgemeinden Menschenrechtsgruppen und vor allem anklagende Aktionen mit symbolischem Charakter wie Wallfahrten, Kreuzwege und Nachtwachen.

Schutz, Dienst und Impuls

Die Praxis der Basisgemeinden schuf wichtige Räume für die Volksorganisationen und deren Praxis im weiteren Sinne. Die Gemeinschaften waren wichtiger Bezugspunkt – manchmal der einzige innerhalb eines Stadtteils oder einer Siedlung – für die Beteiligung des Volkes. Um die Basisgemeinden herum oder von ihnen angestoßen entstanden im Kontext der harten Repression und Exklusion verschiedene kulturelle oder solidarische Volksorganisationen.
Die Basisgemeinden verstanden sich in einer bestimmten Art zur Kirche gehörig und die Unterstützung durch die Kirche spielte eine wichtige Rolle in der Entwicklung ihrer Praxis. Der institutionelle Rahmen der Kirche bedeutete Unterstützung in dreifacher Hinsicht: als Schutz, als Dienst und als Impuls. Die Beziehung zur Kirche als Institution bot einen gewissen Schutz bei Anklage von Menschenrechtsverletzung und Verteidigung der Betroffenen.
Aber der institutionelle Rahmen der Kirche war auch eine reale Grenze für die Praxis der Basisgemeinden. Dieser Rahmen war maßgeblicher Faktor, durch den in Chile und in ganz Lateinamerika die Basisgemeinden zerbrochen sind. Während der zwanzig Jahre, auf die ich mich hier beziehe, gab es in der katholischen Kirche einen schweren Konflikt um Befreiungstheologie und Basisgemeinden. Durch die Stärkung der konservativen Kräfte innerhalb der Kirche wurde die Befreiungstheologie zensiert und begrenzt. Gleichzeitig wuchs der Druck auf die Basisgemeinden, mit dem sie zu ausschließlich religiösen Gruppen ohne relevante soziale Praxis gemacht und in traditionelle Strukturen der Kirche eingeordnet werden sollten.

Die Moderne: Fetzen und Karikatur

Im Kontext der Öffnung der Kirche für die „moderne Welt“ im II. Vatikanischen Konzil kommt der Erfahrung der Basisgemeinden eine mehrfache und komplexe Bedeutung zu. Sie setzt eine neue Beziehung zur „Welt“ in Gang. Was in Europa „Begegnung mit der Moderne“ bedeutet, führt die lateinamerikanische katholische Kirche in eine komplexe und chaotische Welt, in der die Moderne nur als Fetzen und Karikatur existiert, in der die soziale Exklusion über die Integration dominiert, wo die „institutionalisierte Gewalt“ die Fragmente der Demokratie überlagert und wo das grundlegendste und schlagkräftigste Faktum der Wirklichkeit die Armut in ihrer Quantität und Qualität ist.
Eine Begegnung mit dieser Welt kann nur kritisch erfolgen. Unter diesen Bedingungen für Freiheit und Menschlichkeit einzutreten, also für das, was das Positive an der Moderne ist, bedeutet notwendigerweise, sich mit dem Problem der Armut und der Exklusion auseinanderzusetzen. Mit anderen Worten: Es bedeutet, eine grundsätzliche Option für die Veränderung der Gesellschaft zu übernehmen. Es gibt weder wirkliche Freiheit noch Demokratie, solange es dieses Ausmaß von Armut, Exklusion und Gewalt gibt. In Lateinamerika muß die Begegnung zwischen Christentum und politischen Freiheitsentwürfen notwendig von den Armen ausgehen. Natürlich haben nicht alle in der lateinamerikanischen Kirche diese Position übernommen. Die letzten drei Jahrzehnte waren durch heftige Auseinandersetzungen gerade an diesem Punkt gekennzeichnet. Zu den Sektoren, die diese Linie am entschiedensten und bedeutsamsten verkörpert haben, gehörten die Basisgemeinden. Sie sind nicht die einzigen Akteure gewesen, noch ist ihre Praxis die einzige Weise gewesen, eine solche Begegnung zwischen Freiheit und Kirche in Gang zu setzen. Aber in ihrer Erfahrung hat sich vermutlich am bedeutsamsten die Verschränkung von Christentum, Freiheit und Partizipation der Armen ausgedrückt. Und sie haben gleichzeitig eine Ideenwelt, das heißt einen Komplex von Kategorien und Konzepten entwickelt, in dem sich ihre Erfahrung und ihr Horizont von Erwartungen und Hoffnungen ausdrückten.

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