Gesundheit | Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002

Geld oder Leben

LN

Spätestens seit die Weltbank in den 80er Jahren den Rückzug des Staates zur Bedingung für Kredite machte, wurden solidarische Grundsätze in den sozialen Sicherungssystemen Lateinamerikas aufgeweicht. Vorreiterin dieser Bewegung war Chile während der Pinochet-Diktatur. Nirgendwo sonst auf dem Subkontinent gelang es, das Solidarprinzip so sehr aufzulösen. Seitdem stehen den staatlichen Institutionen private AkteurInnen auf dem neu geschaffenen Gesundheitsmarkt gegenüber.
Wir beschreiben in unserem Schwerpunkt die lateinamerikanischeN Gesundheitssysteme zu Beginn des 21. Jahrhunderts sowie die Auswirkungen von Reformen auf die Bevölkerung. Jens Holst gibt einen Überblick über die bestehenden Gesundheitssysteme und beschreibt die oftmals ganz unterschiedlichen Reformansätze. So wird deutlich, dass wirtschaftliche Zwänge nicht nur eine Lösung vorgeben, und der Ausschluss eines Großteils der Bevölkerung von der Gesundheitsversorgung kein Sachzwang ist.
Derzeit rudert sogar das neoliberale Musterland Chile zurück: Durch den neuen Reformplan AUGE werden Behandlungsgarantien für alle, ob privat oder öffentlich versichert, wieder eingeführt. Allerdings bisher nur für einige wenige Krankheiten. Dinah Stratenwerth stellt den Plan vor, lässt aber auch seine KritikerInnen zu Wort kommen. Auch in anderen Bereichen tut sich was in Chile: Die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zwischen traditionellen Heilmethoden und westlicher Schulmedizin beschreibt Tanja Rother am Beispiel eines Projektes im Süden von Chile.
Vom Musterland der Marktwirtschaft bringt uns Knut Henkel nach Kuba. Er widmet sich dem hochgelobten System der universellen staatlichen Absicherung. Trotz wirtschaftlicher Dauerkrise gelingt es, ein hohes Niveau der gesundheitlichen Versorgung zu halten. Davon profitieren auch Menschen anderswo: Nach dem Hurricane Mitch Ende 1998 zum Beispiel haben kubanische ÄrztInnen in El Salvador Nothilfe geleistet. Denn hier entzieht sich der Staat vielfach seiner Verantwortung, wie Eduardo Espinoza beschreibt. Finanzielle Gewinne sind wichtiger als die Gesundheit. Vergleichbar ist die Situation in Guatemala. Wie der Alltag in den öffentlichen Krankenhäusern in der Haupstadt aussieht, beschreibt Ines Hölder in ihrer Reportage.
Gesundheitspolitik wirkt unterschiedlich auf Frauen und Männer. Wenn der Zugang zur Gesundheitsversorgung marktgemäß geregelt ist, sind Frauen durch die ungerechte Macht- und Reichtumsverteilung benachteiligt. Ein Hauptthema für Lateinamerikanerinnen ist allerdings, so Silke Steinhilber, dass das Frauenrecht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper durch Abtreibungsverbote mit Füßen getreten wird.
Gesundheitspolitik ist also eine Frage der Rechte und der Verteilung. Bei vergleichbarer wirtschaftlicher Entwicklung weisen andere Weltregionen bessere Sozial- und Gesundheitsindikatoren auf als Lateinamerika. Dafür ist die große soziale und wirtschaftliche Ungleichheit auf dem Subkontinent verantwortlich. Die Versorgung Armer in Peru beschreibt Rolf Schröder in seiner Reportage aus Villa El Salvador, einem Elendsviertel von Lima.
Im Jahr 1999 starben weltweit 40 Millionen Menschen an Krankheiten, die längst geheilt werden können. Die private Gesundheitsindustrie hat kein Interesse an ihrer Heilung. So werden nur 10 Prozent der globalen Forschungsausgaben für 90 Prozent der Krankheiten aufgewandt. Weltweite Akteure wie die WTO fördern das Geschäft mit der Gesundheit.
Gesundheit ist ein Thema, das zunehmend auf globaler Ebene entschieden wird. Das greift auch Attac dieses Jahr auf, und stellt Verbindungen her zwischen hiesigen und globalen Entwicklungen. Ein zentrales Instrument im Sinne der Industrieländer zum Beispiel ist das Patentschutzabkommen TRIPS (Trade Related Intellectual Property Rights). Es zwingt die WTO Mitgliedsstaaten, ein Patentrecht einzuführen, dass der Pharmaindustrie auf den Leib geschneidert ist. Christian Wagner beschreibt, wie traditionelles Wissen durch Konzerne gestohlen wird.
Zum Abschluß präsentiert Marianne Dörmann eine literarische Verarbeitung von Krankheit und Tod in einer Buchrezension von „Mein Bruder“ von Jamaica Kincaid. Der Bruder der Autorin starb auf ihrer Heimatinsel Antigua an Aids. Dort gibt es für Menschen, die sich mit HIV infiziert haben, keine Lobby.

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