„Glaubst du den Politikern etwa?“
Im Süden Lateinamerikas interessieren sich immer weniger Jugendliche für die Politik
Auf die Straße zu gehen um zu protestieren, erscheint mir absurd!“ meint der 21-jährige Chilene Hector. „Gründe zum Protestieren gibt es schon, aber diese Art Aktivitäten, bei denen man nur seine Zeit verliert, gefallen mir nicht. Ich nehme die Proteste nicht ernst – was bringt es denn? Völlig sinnlos!“
Hector gehört zu der heute in Chile größten „politischen Partei“. Der Partei der NichtwählerInnen, die Jahr für Jahr an Mitgliedern zunimmt und den PolitikerInnen immer mehr Kopfzerbrechen bereitet. Denn vor allem Jugendliche bleiben den Wahlen zunehmend fern, wodurch die demokratische Legitimation der Regierung nicht unbedingt erhöht wird. Die ehemals in Deutschland als (Un)Wort des Jahres ausgezeichnete „Politikverdrossenheit“ ist offenbar unter ihnen weit verbreitet. Chile ist wohl der „Weltmeister“ in der Kategorie der jugendlichen NichtwählerInnen.
Dort waren bis zum Militärputsch 1973 die Vertreter der Jugend- und Studentenbewegungen auch in der „großen Politik“ vertreten. Sie waren landesweit bekannt und klettern jetzt auf der Karriereleiter – in einem Fall sogar bis zum Präsidentschaftskandidaten. Solche Phänomene sind heute eher selten geworden. PolitikerInnen beklagen die negative Haltung der Jugendlichen und die Apathie, die sie den Geschehnissen in ihrer Umwelt gegenüber an den Tag legen. Sie kritisieren, daß die Jugendlichen sich nur noch für Fußball und ihr Vergnügen interessieren, anstatt politisches Engagement zu zeigen oder zumindest zur Wahl zu gehen.
Dämonisierung der Jugend
Im Stadion der Spitzen-Mannschaft Colo-Colo in Santiago sehen sich die meist jugendlichen, mit Trikots, Tätowierungen oder Stirnbändern ihres Vereins geschmückten Fans, nach dem Spiel von kräftigen Polizisten mit Kampfanzügen, Helmen, Schildern und Schlagstöcken eingekesselt. Die Gittertore sind verrammelt, vor den Toren patrouillieren berittene Bereitschaftspolizisten, und an den Ausfallwegen stehen vergitterte Fahrzeuge mit Wasserwerfern. Im März 1999 wurde nach Ausschreitungen mit Todesfolgen ein neues Stadiongesetz erlassen, das ein härteres Durchgreifen der Polizei, gegen die meist aus Elendsvierteln stammenden RandaliererInnen rechtlich absichern soll. An jenem Spieltag werden diese Maßnahmen zum ersten Mal umgesetzt. Obwohl die Fans nicht damit gerechnet haben, auf diese Weise am Heimweg gehindert zu werden und die Abneigung gegen die Polizisten ohnehin groß ist, kommt es nur zu Beschimpfungen und kleineren Zwischenfällen. Im chilenischen Fernsehen wird die Polizeiaktion am Abend als Erfolg gefeiert.
Presse und Öffentlichkeit stellen die Jugendlichen oft als Kriminelle, Störenfriede und Gewalttäter dar. Am 1.Mai, am Jahrestag des Joven Combate (Junger Kämpfer), bei Protesten der Studierende, Märschen der Familien der Verschwundenen für eine Verurteilung Pinochets – immer kommt den Jugendlichen die undankbare Rolle der Unruhestifter zu. Fast völlig ignoriert werden hingegen friedliche Proteste, zum Beispiel gegen den Bau eines Staudamms, konkrete Reformbestrebungen der Studierenden an den Hochschulen oder Solidaritätskundgebungen mit den um ihre Existenzberechtigung kämpfenden Mapuche im Süden das Landes.
Auch Jugendliche selbst stellen die Motive ihrer AltersgenossInnen bei den Protesten in Frage und übernehmen das von den Medien vermittelte Bild.
Strittig ist die Frage der Wahlpflicht. In Argentinien kann ein Fernbleiben von der Wahl an dem im Ausweis fehlenden Stempel abgelesen und geahndet werden. In Chile aber muß man sich erst in ein Wahlregister einschreiben lassen um wählen zu können. Wer im Wahlregister erfaßt ist, bleibt bis ans Lebensende zum Urnengang verpflichtet. Für viele junge ChilenInnen ist das keine verlockende Aussicht, und wohl auch deswegen ging die Zahl der ChilenInnen, die sich mit dem vollendeten 18. Lebensjahr ins Wahlregister einschreiben lassen, seit der ersten demokratischen Wahl nach dem Putsch stetig zurück.
Geringe Wahl-beteiligung
Sandra ist Unternehmerstochter und Studentin aus Santiago. Die 23-jährige weiß, daß sie mit ihrer Stimme zugleich „die einzige Chance sich auszudrücken“ vergibt, hält die Wahlen aber ohnehin schon für entschieden: „Meine Stimme würde eh nichts ändern.“ Außerdem müßte sie ihr ganzes Leben lang wählen, könnte als Wahlhelferin verpflichtet werden und hätte zum Beispiel für eine wichtige Prüfung am nächsten Tag weniger Zeit zum Lernen. So verlöre sie Zeit für wichtigere Dinge. Ganz abgesehen davon stand bislang noch nie ein Kandidat zur Wahl, der ihr gefallen hätte.
Alle Politiker meinen natürlich, daß gerade ihrer Partei durch diese unverständliche politische Apathie wichtige Stimmen verloren gingen. Bei den chilenischen Jugendlichen unter 20 Jahren haben sich 85,5 Prozent nicht eingeschrieben, bei den 20- bis 24-jährigen stehen 47,6 Prozent und bei den 25- bis 29-jährigen 22,9 Prozent nicht in den Wahllisten. So startete der sozialistische Präsidentschaftskandidat Ricardo Lagos eine, speziell an jugendliche NichtwählerInnen gerichtete Kampagne, um sie zu bewegen, sich ins Wahlregister einzuschreiben – bisher ohne Erfolg.
Das konservative Lager interpretiert ein Fernbleiben von den Wahlurnen als generelle Übereinstimmung der Jugendlichen mit dem neuen liberalen System und den darin vermittelten Werten: „Sie sind mit der Verwirklichung ihrer individuellen und wirtschaftlichen Ziele beschäftigt und sehen deswegen auch keinen Grund, sich am politischen Meinungsbildungsprozeß zu beteiligen“, meint ein führender Mitarbeiter des liberalen Forschungsinstitutes „Desarrollo y Libertad“.
Kritiker dieses „egoistischen, hedonistischen und kapitalistischen Modells“ Chile sind dagegen der Meinung, daß die Jüngeren die Propaganda des Neoliberalismus durchschauen und sich deshalb von einer Politik abwenden, die dieses Modell vertritt.
Diejenigen, denen das Wirtschaftsmodell des Pinochet-Regimes einen beachtlichen Wohlstand gebracht hat, fühlen sich zwar manchmal durch die Politik beeinträchtigt, doch sie sind auch nicht an großen Veränderungen interessiert. Die werden aufgrund der Verfassung ohnehin nicht zugelassen. Jugendliche aus Familien, denen die Politik Pinochets keinen Wohlstand gebracht hat, nehmen aus genau diesen Gründen immer mehr Abstand von der Politik. Von dort erwarten sie nach zahlreichen Enttäuschungen am wenigsten Hilfe.
Vor allem Jugendliche waren es, die 1983/84 bei Aufständen gegen das Pinochet-Regime ihren Kopf riskierten. Sie schrieben sich fast alle beim Plebiszit 1989 ein und halfen so bei der Abwahl des Diktators. Damals haben sie das Wahlrecht erkämpft, und heute drücken viele ihren Unmut in den zahlreichen „votos blancos“ (leer abgegebene Stimmzettel) aus. 42 Prozent der eingeschriebenen Jugendlichen würden sich nicht wieder registrieren lassen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Sie haben das Vertrauen in die Politiker verloren. Die Frustration ihrer Eltern scheint wie eine schwere Hypothek auf ihnen zu lasten, und die fehlende politische Bildung tut ihr Übriges, um eine differenzierte Haltung unmöglich werden zu lassen.
Enttäuschte Erwartungen
Die PolitikerInnen und große Teile der Gesellschaft wollen ihre Politik und daraus folgende gesellschaftliche Probleme nicht in den Problemen der Jugendlichen wiedergespiegelt sehen. Und auch die Jugendlichen nehmen die Politiker in Sippenhaft. Der Stachel der Enttäuschung sitzt tief, nicht nur in Chile.
Argentinische Jugendliche, die von Menem überzeugt sind, wird man zum Beispiel schwer finden. Er gilt eher als Witzfigur. Darauf angesprochen, wie jemand, dem jegliche Intelligenz abgesprochen wird, Präsident Argentiniens sein kann, mutmaßen manche gar, daß es sich nur um einen Strohmann der mächtigen Familien des Landes handelt. Seinen designierten Nachfolger Duhalde halten die meisten Jugendlichen für einen Drogenhändler und Waffenschieber, was seine Drohgebärden gegen genau diese Gruppierungen nicht glaubhafter erscheinen läßt. „Hier in Argentinien besteht der einzige Unterschied zwischen den PolitikerInnen darin, wieviel sie klauen. Jeder stiehlt soviel er kann, je mehr Macht ein Politiker hat, desto korrupter ist er“, sagt zum Beispiel Carla, eine 21-jährige aus Buenos Aires. Auch wenn ein Regierungswechsel oder ein neuer Präsident ansteht, ist es für fast alle nur die Wahl des geringeren Übels. Wenn sie nicht müßten, würde fast kein Jugendlicher wählen gehen.
Alternative Politik oder Alternativen zur Politik?
Gründe für die Abkehr von der Politik gibt es für die Jugendlichen im Süden Lateinamerikas also mehr als genug. Deswegen ist die öffentliche Kritik an frustrierten Jugendlichen zu einseitig. Weil die KritikerInnen in einer Zeit aufgewachsen sind, in der Politik als Möglichkeit zur Gesellschaftserneuerung gesehen wurde, fällt es ihnen schwer, Verständnis aufzubringen. Bei allen Rückschlägen: Wie sollen die Mißstände verändert, verbessert oder überhaupt benannt werden, wenn nicht in der Politik?
Anstatt den Jugendlichen jeglichen Idealismus abzusprechen, könnte man auch fragen, ob sie nicht nur die Zeichen der Zeit frühzeitig erkannt haben und sich auf Alternativen zur politischen Arbeit konzentrieren.
Sergio zum Beispiel, ein 23 jähriger Student aus Viña del Mar, engagiert sich in sechs verschiedenen nicht-staatlichen sozialen Institutionen: in Gruppen gegen Kindesmißhandlung, für die Integration Aidskranker, in Kindergruppen sowie bei weiteren sozialen und kulturellen Aktivitäten. Zusammen mit anderen Jugendlichen organisiert er Straßensperrungen, um Verkehrswege kurzfristig in Spielstraßen umzuwandeln, oder Theaterfestivals mit sozial Benachteiligten. In allen Organisationen arbeitet er als Freiwilliger, weil ihn „die Arbeit mit den Armen begeistert“. Freizeit bleibt ihm da keine mehr.
Ein ähnliches Beispiel ist die 26-jährige Catarina, Angestellte, zweifache Mutter und Studentin, die an einer privaten Universität eine Führungsrolle bei einem Streik übernahm: „Wir müssen für die Universität zahlen. Und im Gegensatz zu anderen reicheren StudentInnen an konservativen Universitäten, die nicht streiken, haben wir sowieso schon die schlechteren Berufschancen. Irgendwas mußte sich aber trotzdem ändern, und was sollten wir sonst machen? Aber es war schon eine schwere Entscheidung!“
Hooligans und Parties
Ein Gesetzesvorschlag, den Präsident Frei im Juli diesen Jahres den Mapuche zur Verbesserung ihrer rechtlichen Situation unterbreitete, ist auch als Ergebnis der jugendlichen Solidaritätsbekundungen, Proteste und Märsche in Santiago wie auch im Süden, zu sehen.
Selbst die berüchtigten barras bravas (Hooligans) stellen mehr als nur eine „Ansammlung gewalttätiger Verbrecher“ dar. So kann Viviana Diaz Caro, Vizepräsidentin der Angehörigen der Verschwundenen, berichten, daß sie nach dem Punto Final, dem Amnestiegesetz 1993, gerade von den Anführern der Hooligans Unterstützung und Hilfe angeboten bekam. „später luden sie uns noch zu einer Erinnerungsfeier für Allende ein.“
Und sogar die als vergnügungssüchtig ausgegrenzten Anhänger des carrete, wie in Chile die abendliche Suche nach Abwechslung in Clubs, Discos, Parties oder einfach auf der Straße genannt wird, lassen sich nicht allgemein als desinteressierte MitläuferInnen abtun. Zu dieser Gruppe gehören sicher die meisten Jugendlichen im Süden Lateinamerikas. Sie schaffen sich auf vielfältige Weise eine eigene Welt, die neben der Sphäre der Politik existiert.
Die Jugendlichen sehen die Politik als Intrigenspiel und Ansammlung korrupter LügnerInnen. In ihren Augen bleibt die Politik den Gegenbeweis bisher schuldig. Warum sollte man sich noch dazu vergeblich in diesem schmutzigen Geschäft aufopfern, fragen deshalb viele Jugendliche. Der Weg in die politische Apathie liegt dabei nahe und wird auch von vielen gewählt, eine nicht zu unterschätzende Gruppe der Jugendlichen versucht jedoch, durch gesellschaftliches Engagement etwas zu verändern.