50 Jahre LN | Aktuell | Jubiläumsnummer 588 - Juni 2023 | Zentralamerika

Götterdämmerung in Zentralamerika

Zerwürfnisse und Spaltungen beherrschen die revolutionären Organisationen

Nicaragua-Solidarität in der BRD: Eine Einordnung zum Editorial der LN 248 (Februar 1995).

Von Elisabeth Erdtmann & Lya Cuéllar

10 Jahre Nicaragua Libre Ausschnit aus einem LN-Cover von 1989

Als im Juli 1979 die revolutionäre Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) in Nicaragua nach mehr als einem Jahrzehnt bewaffnetem Kampf den Sieg über die Somoza-Diktatur errang, hatte dieses Ereignis das rasche Anwachsen der bundesdeutschen Nicaragua-Solidarität zur Folge. Bis dahin hatte die Bewegung in der Öffentlichkeit erfolgreich zu vermitteln vermocht, dass es sich bei den Sandinist*innen nicht um eine isolierte revolutionäre Guerilla-Vorhut handelte, die den Aufstand probte, sondern der Widerstand gegen den Diktator deutlich und sichtbar vom Volk getragen wurde. Nach dem Sieg der Sandinist*innen begann im westlichen Teil Deutschlands eine unüberblickbare Zahl von Solidaritätskomitees die politische Topografie zu verändern. Selbst in kleinsten Gemeinden gründeten sich Solidaritätskomitees. Vor allem junge Leute fühlten sich von der Revolution angezogen, insbesondere nachdem die USA durch die von ihnen bewaffnete und trainierte Contra-Guerilla die Niederschlagung der Revolution durch Terror gegen die Zivilbevölkerung anstrebten. Menschen unterschiedlichster politischer Gesinnung, einzeln oder organisiert in linken Zusammenhängen, kirchliche Gruppen bis hin zu Grünen-, SPD- und Gewerkschaftsgruppen folgten dem Ruf der Revolution und machten sich in ein bis dahin unbekanntes Land auf, um medizinische Versorgung zu leisten, zu unterrichten, Schulen und Siedlungen zu bauen oder bei der Kaffeeernte zu helfen.

In El Salvador, wo die Oppositionsbewegung mit dem Sieg der Sandinist*innen ungeheuren Auftrieb erhielt, standen sich Anfang der 80er Jahre eine starke Guerilla und eine von den USA hochgerüstete Armee gegenüber und auch in Guatemala schienen sich mit dem Zusammenschluss der vier Guerillaorganisationen die Voraussetzungen für eine Volkserhebung abzuzeichnen. Die Solidaritätsbewegung in Deutschland weitete dementsprechend ihre Praxis auf ganz Mittelamerika aus.

Im Editorial vom Februar 1995 beschäftigten wir uns mit dem Scherbenhaufen, vor dem die Solidaritätsbewegung nach dem Ende der revolutionären Hoffnungen stand: Nach fast 10 Jahren Krieg waren die Nicaraguaner*innen kriegsmüde und nach 50.000 Toten vom Terror der Contra-Guerilla zermürbt. 1990 verlor die FSLN die Wahlen und stand damit an einem Scheideweg: Auf ihrem Parteikongress 1994 spaltete sich die Partei, wobei der Flügel, der die Demokratisierung anstrebte, unterlag. Der von Daniel Ortega angeführte Mehrheitsflügel bestätigte dagegen seinen Führungsanspruch. Als Ortega 2007 erneut Präsident wurde, trugen sein autoritärer Führungsstil, sowie der in der Partei verankerte Vertikalismus bereits den Keim für die Errichtung der heutigen Diktatur in sich: Eine Familiendynastie, die an der Spitze von strategisch wichtigen Unternehmen, Geschäften und Kommunikationsmedien steht und der jedes Mittel recht ist, um sich an der Macht zu halten.

Für die Solidaritätsbewegung hatte dieser Prozess schon früh demobilisierenden Charakter, viele Gruppen lösten sich auf oder zogen sich auf die Unterstützung jener Projekte zurück, die sie einst mitinitiiert hatten und für deren Überleben sie sorgen wollten. Andere übernahmen das Narrativ der Ortega-Anhänger*innen, wonach − frei von jeglicher Selbstkritik und trotz offensichtlicher Verfehlungen − allein der von den USA geführte Contra-Krieg für die Wahlniederlage verantwortlich gemacht wurde.

Elisabeth Erdtmann ist seit 2018 Redaktionsmitglied mit dem Schwerpunkt Nicaragua
Lya Cuéllar koordiniert den Runden Tisch Zentralamerika und ist Redaktionsmitglied bei LN

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