Brasilien | Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016

GRANDIOSES SCHEITERN UND EIN KLEINER SIEG

NACH DEN OLYMPISCHEN SOMMERSPIELEN IN RIO DE JANEIRO GEHT DER WETTSTREIT UM DIE NARRATIVE HOHEIT WEITER

Während in den Stadien und Arenen, auf den Straßen und im Wasser rund um den Zuckerhut um Medaillen gewetteifert wurde, streitet sich die Politik in einem gespaltenen Land um das doch recht zweifelhafte Narrativ von Ruhm, Ehre und Erbe der Olympischen Sommerspiele von Rio de Janeiro.

Von Thomas Fatheuer
Foto: Gabriel Heusi Brasil2016.gov.br Portal Brasil CCBY30BR
Foto: Gabriel Heusi Brasil2016.gov.br Portal Brasil CCBY30BR

Die olympischen Spiele sind ein immanent politisches Ereignis – das gilt natürlich insbesondere für das Gastgeberland Brasilien. „Wir haben bewiesen, dass wir in der Lage sind, Olympische Spiele durchzuführen… Niemand zweifelt mehr an der ökonomischen und sozialen Größe des Landes. Brasilien hat das internationale Bürgerrecht erworben…, wir haben allen gezeigt, dass wir aus der zweiten Klasse aufgestiegen sind.“ – Mit diesen triumphalistischen Worten kommentierte im Jahre 2010 der damalige Präsident Lula da Silva die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitee für Rio de Janeiro und Brasilien als Austragungsort für die Olympischen Sommerspiele 2016.
Olympische Spiele und Fußball-WM der Männer – dies sollte der Ritterschlag für die aufstrebende Nation und für die politische Führung von Lulas Arbeiterpartei PT werden. Aber es kam ganz anders: 2016 liegt die Popularität der PT darnieder, die Olympischen Spiele fallen mitten in das Impeachmentverfahren gegen Dilma Rouseff und am Eröffnungstag der Spiele ist nicht Dilma, sondern Putschist Temer amtierender Präsident. Lula, Dilma und die PT fühlen sich um die Früchte ihrer Arbeit beraubt und verteidigen die Spiele als ihr Werk – gegen die Usurpatoren, gegen den Putsch. Kritik von sozialen Bewegungen ist daher nicht gern gesehen. Die Spiele sollen der große Verdienst und das Vermächtnis der langen Regierungszeit der PT unter Lula und Dilma und ein Symbol nationaler Größe bleiben. So markierten der Kampf um Narrative und auch Proteste gegen Temer die Spiele von 2016.
Aber neben den großen nationalen Narrativen erzählen Olympische Spiele auch kleinere Geschichten, die Schlaglichter auf die Lage eines gespalten Landes werfen. Nach quälenden ersten Tagen ohne Medaille gewann Rafaela Silva die erste Goldmedaille für Brasilien im Judo. Rafaela Silva ist schwarz, lesbisch und im Armenviertel Cidade de Deus geboren, weltweit berühmt geworden durch den gleichnamigen Film. Im Jahr 2012 war sie bei den olympischen Spielen in London schon in der zweiten Runde ausgeschieden, weil sie einen verboten Griff versuchte. Damals ergoss sich ein rassistischer Shitstorm im Internet. „Ein Affe sollte im Käfig bleiben“ musste Rafaela Silva lesen. Als Siegerin wird sie zur Heldin, allerdings eine schwierige Heldin für die reaktionäre Offensive in Brasilien, eine ideale Heldin für die Linke. Zumal Rafaela durch ein Regierungsprogramm gefördert worden war, ihre Dankbarkeit dafür deutlich zum Ausdruck brachte und 2014 Dilma im Wahlkampf unterstützte. Aber aber auch das konservative Lager versucht, den Sieg der Athletin für sich zu reklamieren. Rafaela Silva ist nämlich Sergeantin des Militärs und hatte nach anderen Siegen schon mit militärischem Gruß auf dem Podium gestanden. Also ein Sieg der Militärs? Wohl eher doch nicht, für das weiße, rassistische Brasilien jedenfalls war der Sieg von Rafaela Silva alles andere als ein ideales Symbol.
Ganz anders verläuft die Geschichte der Schwimmerin Joanna Maranhão. Sie scheidet früh aus und dann bricht der Hass auf sie im Netz aus. Ihr wird Vergewaltigung und der Tod gewünscht. Warum so viel Hass gerade gegen Sie? Jonnana Maranhão hat vor Jahren den Missbrauch durch ihren Trainer publik gemacht und wurde damit eine wichtige, öffentlich engagierte Person gegen Missbrauch und Pädophilie. Ein Gesetz, dass die Verjährungsfrist für Missbrauch an Minderjährigen verlängert, trägt ihren Namen. Außerdem hat sie sich immer politisch links positioniert. Während also die Goldmedaille Rafaela Silva dieses Mal vor rassistischen Angriffen schützte, entlud sich der Hass gegen Joanna Maranhão ungehemmt. „Brasil ist eine sehr machistisches, rassistischesLand, homophob und fremdenfeindlich“, erklärte sie nach den Angriffen.
Wir wissen, wie die Spiele verlaufen sind: ohne allzu große Pannen, mit beeindruckenden Choreographien zur Eröffnung und einem bunten Fest zum Schluss. Auch die Proteste gegen Temer („Fora Temer“) und gegen den Putsch waren sichtbar, aber sie hielten sich letztlich in überschaubaren Grenzen. Und so wollen Dilma und Lula den angeblichen Erfolg der Spiele für sich reklamieren.
„Was auf dem Spiel steht, ist die Selbstachtung der Brasilianer und Brasilianerinnen, die sich gegen die pessimistischen Angriffe zu Wehr setzen, die die Fähigkeit Brasiliens anzweifelten, die Fußball WM, die Olympischen Spiele und die Paralympischen Spiele erfolgreich durchzuführen“, erklärte Dilma in ihrer Verteidigungsrede gegen das Impeachment vor dem Senat, und brach genau an dieser Stelle – und nur an dieser – in Tränen aus.
Der Kampf um die Narritive hat gerade erst begonnen und der Triumphalismus von 2009 ist noch nicht ganz tot: Lula und Dilma hätten Brasilien zu neuer Größe geführt, WM und Olympische Spiel seien der sichtbare Beweis. Ein verräterischer Putsch habe alles zerstört, so die aktualisierte Version. Wer auf nationale Größe schaut, der kann Menschenrechtsverletzungen, Vertreibungen und immense Aufgaben nicht mehr recht wahrnehmen. Und auch das Geschäftsmodell des IOC wird in dieser Perspektive nicht in Frage gestellt. Aber genau dieses sollte nicht vergessen werden. Die gesamten Einnahmen (geschätzte 4,5 Milliarden US-Dollar) aus den Fernsehrechten und Sponsorenverträgen gehen an das Olympische Komitee, das krisengeschüttelte Land ist allein für Ausgaben für die Sportstätten zuständig: etwa fünf Milliarden Euro kostete der Spaß, nimmt man alle mit den Spielen verbundenen Investitionen hinzu, summiert sich die Rechnung auf zehn Milliarden. Viel Geld um dann doch nicht in der ersten Klasse gelandet zu sein.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren