Hungerrevolten in Haiti
Preisanstieg für Lebensmittel treibt die Menschen auf die Straßen
Wenn Ginette Pierre vor dem Reisregal im Supermarkt von Pétionville steht, steigt in ihr die Wut hoch. Vor einem Monat musste sie für den 12,5 Kilosack umgerechnet 14 Euro bezahlen. Jetzt kostet die gleiche Menge schon 3,50 Euro mehr. Die 32 Jahre alte Haushaltsgehilfe verdient rund 68 Euro im Monat. Das ist noch gut bezahlt im Verhältnis zu anderen Hausangestellten in Haiti, die durchschnittlich rund 15 Euro weniger bekommen. Von ihrem Monatseinkommen muss Ginette Pierre noch die Fahrt zur Arbeitsstelle im TapTap, dem populären Verkehrsmittel bezahlen. Aber auch die Busfahrer halten die Hand immer weiter auf, denn die Benzinpreis sind von 0,65 Euro auf 1,20 pro Liter in die Höhe geschossen.
Dass Ginette Pierre mit ihrer Wut keine Ausnahme ist, manifestierte sich Anfang April. Ausgehend von der Hafenstadt Les Cayes rollte eine Welle von Hungerrevolten durch die Insel, der mindestens fünf Personen zum Opfer fielen. Bei der ersten Demonstration in Les Cayes skandierten mehr als 2.000 Menschen „Wir haben Hunger“ und forderten: „Runter mit den Preisen“. Die ständigen Preissteigerungen waren in den letzten Wochen auch Themen bei den Busfahrten von Rachel Francois (Name geändert). Der Brotpreis sei wieder gestiegen, stöhnte eine. Seit drei Wochen habe kein Fleisch mehr auf dem Tisch gestanden, stimmte ein anderer in den Beschwerdechor ein. „Mir bleibt am Monatsende immer weniger Geld“, klagt die 24 Jahre alte Sekretärin einer internationalen Hilfsorganisation. Als „einheimische Kraft“ verdient sie monatlich rund 300 Euro. Ein fast fürstliches Einkommen, wenn man sich statistische Angaben für das Armenhaus Lateinamerikas ansieht.
Fast 80 Prozent der Bevölkerung verfügen täglich durchschnittlich über gerade mal 1,25 Euro. Und in den Armenviertel wie Cité Soleil, der ganz und gar nicht „Sonnenstadt“ im Zentrum der haitianischen Hauptstadt, leben die Menschen von der Hand in den Mund. Männer schlagen sich um die kaum vorhandenen Tagelöhnerjobs, Frauen versuchen sich mit Kleinverkäufen an Nachbarn über Wasser zu halten. Ohne die Auslandsüberweisungen sähe die Situation noch düsterer aus. 1,1 Milliarden Euros schickten die im Ausland lebenden rund zwei Millionen Haitianer im Vorjahr an ihrer armen Verwandten im „Land der Berge“, hat der Ökonom Kesner Pharel errechnet. Haiti hänge am Tropf, hat er schon vor Jahren in einem seiner Kommentare im Rundfunksender Radio Metropole vor der Wirtschaftsentwicklung gewarnt.
Zwar hat sich das Land nach monatelangen Unruhen und dem Sturz des damaligen Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide im Jahr 2004 wieder innenpolitisch stabilisiert. Dafür sorgen unter anderem rund 9.000 UN-BlauhelmsoldatInnen und UNPOL-PolizistInnen. Die Wirtschaftslage hat sich aber gerade für die Armen nicht verbessert. „Die wirtschaftliche Abhängigkeit wird immer schlimmer“, warnt Pharel. Seit mit Hilfe des Welternährungsprogramms billige Reislieferungen ins Land kommen, lohnt sich für die einheimischen Langkornproduzenten der Anbau kaum noch. Sie können mit den US-Preisen nicht konkurrieren. Ölspekulationen, Lieferengpässe – das tägliche Brot der internationalen Lieferanten mit großen Gewinnen und manchmal auch heftigen Verlusten, bekommt das neun Millionen Einwohner Land sofort zu spüren. „Jede kleine Krise auf dem Weltmarkt macht sich hier als Katastrophe bemerkbar. Mich wundert es, dass das Pulverfass Lebensmittelkosten nicht schon früher explodiert ist“, sagt Pharel.
Am 12. Februar wurde schließlich nach tagelangen gewaltsamen Protesten Ministerpräsident Alexis abgesetzt und der Preis für Reis um 16 Prozent gesenkt.