Brasilien | Nummer 234 - Dezember 1993

Ich glotz TV

Unordentliche Gedanken zum brasilianischen Fernsehen

Ich glotz TV, natürlich wie alle Welt hier, und außerdem ist es besonders schön bunt, grell und blutig. Brasilianisches Fernsehen – das ist natürlich in erster Linie TV-Globo, der alles dominierende Mammutsender, das viertgrößte kommerzielle Fernsehnetz der Welt. Über das Phänomen Globo ist auch in Deutschland einiges geschrieben und gesendet worden. Xuxa, der Kinderstar, ist zu einem Weltstar geworden und die Telenovelas zu einem Exportschlager. Aber die Glotze hat noch einiges Anderes zu bieten und so fangen wir erst einmal bei der Konkurrenz an.

Thomas W. Fatheuer

Das Leben, wie es wirklich ist

“A vida como ela ” dieses Motto hämmern Moderator und Moderatorin immer wieder denen ein, die den Abend nicht mit einer Telenovela beginnen wollen, sondern sich bei der Globo-Konkurrenz SBT einschalten, der abgeschlagenen Nr.2. “Aqui e agora” – “Hier und Jetzt” heißt die allabendliche Magazinsendung, die verspricht zu zeigen, wie das Leben wirklich ist. Leider ist es so, wie viele es gerne sehen wollen: Eine Mischung aus Blut und Tränen. “Aqui e agora” setzt die ZuschauerInnen nicht in die erste Reihe, sondern direkt in den Polizeiwagen. In einem Teil der Sendung begleiten ReporterInnen die Polizei beim Einsatz, sind beim Bankraub dabei und verfolgen mit der Polizei die Täter. Wenns dann langsam reicht, kommt die Rührstory: Frau mit Vierlingen, vom Mann verlassen – erst nachdem lange genug im Privatleben des Spendenopfers gerührt worden ist, werden die ZuschauerInnen um Hilfe gebeten.
Der Star von “Aqui e agora” ist Gil Gomes. Wer ihn zum erstenmal hört, glaubt der Ton des Fernsehers sei kaputt. Eine verzerrte Gruftstimme schallt ihm entgegen: “In dieser Stadt, in dieser Straße, in diesem ruhigen Ort, hier, wo sich noch die Nachbarn kennen, hier wo die Welt noch in Ordnung scheint, hier geschah, hier geeschaaah es…” Gil Gomes Stimme hat sich inzwischen schon fast überschlagen und sein Gesicht ist zur Fratze verzerrt, bis er das unerhörte verkündigt. Wo ein Kind zerstückelt wird, wo eine Leiche in Beton gegossen wird, wo die Geliebte die Ehefrau und den Papagei umbringt, da taucht bald Gil Gomes auf und inszeniert den Schrecken neu. In der Regel sind es ordentliche Schrecken. Böse Menschen begehen grausame Taten und werden von der Polizei erwischt.
Immer wieder lobpreist Gomes die Polizei, läßt erst smarte Polizisten erzählen, wie sie das Monster überführt haben, um dieses dann zu präsentieren. Als SBT ein Jahr “Aqui agora” feierte, präsentierte der Sender eine “Best of Gil Gomes”. Höhepunkt war, wie der Höllenreporter zwei Mörder zur Tatortsbesichtigung begleitet. Die beiden hatten einen achtjährigen Jungen sexuell mißbraucht und dann umgebracht. Am Tatort läßt sich Gomes ausführlich den Hergang erzählen. Als sie zum Polizeiauto zurückgehen, will eine aufgeregte Menge die Mörder lynchen. Gil Gomes wendet sich an die Menge und fordert sie in pathetischen Worten auf, ihr Vertrauen in Gott und die Justiz zu setzen – und verhindert die Lynchjustiz.
So ist also das Leben wirklich. SBT rühmt sich, den Nachrichtenjournalismus revolutioniert zu haben. Eins stimmt: Die Welt von “Aqui e agora” ist nicht die glitzernde Scheinwelt der Reklame, es ist ein gewalttätiges Brasilien. Gomes’ Szenarien sind meist im einfachem Mittelschichtsniveau oder in Favelas angesiedelt. Natürlich zeigt die Inszenierung des Immergleichen Abnutzungserscheinungen und pro-voziert damit die Tendenz zur Radikalisierung. Bei Geiselnahmen fordern die Täter immer öfter die Präsenz von SBT und die ReporterInnen stellen sich dann gerne als Ersatzgeisel zur Verfügung. Aber in einem Fall scheint SBT selbst für die hartgesottenen brasilianische Öffentlickeit zu weit gegangen zu sein: “Aqui agora” zeigte live den Selbstmord einer Jugendlichen (sie stürzte sich vom Dach eines Hochhauses) in Sao Paulo.
Mit diesem Programm, das von sieben bis neun Uhr abends “Aqui e agora” mit einer Nachrichtensendung mischt, konnte SBT einen guten zweiten Platz reservieren. Danach kommt dann Billiges, weil man Globo eh keine Konkurrenz machen kann: mexika-nische Telenovelas.
Aber zum Ausklang des Abends überrascht der Sender dann mit einer der besten Sendungen, die das brasilianische Fernsehen zu bieten hat: Jo Soares, der Dicke (er ist unglaublich dick), interviewt mit Witz und Geist (mehr oder weniger) Prominente aller Couleur. Unterhaltsame und intelligente Plaudereien, nicht ohne (tendenziell progressives) Engagement. Die Werbung für die Sendung “geh’ nicht ohne ihn ins Bett” befolgt man/frau jedenfalls recht häufig.

Eine Nation sieht Globo

SBT zeigt, wie eine Strategie gegen die Übermacht Globo aussehen kann. Nicht frontal angreifen, sondern punktuell und nicht an den stärksten Stellen, den Telenovelas am Abend. Denn spätestens ab 8.30 gehört der Abend Globo. Globo-time ist zehn Minuten vor acht und beginnt mit der regionalen Nachrichtensendung. Um 8.00 beginnt dann das Jornal Nacional, die erste und immer noch dominierende Nachrichtensendung des brasilianischen Fersehens. Jetzt sind wir also wie 70 – 90 Prozent aller brasilianischen FernsehzuschauerInnen in den Fängen von Globo. Es gab Telenovelas, die Einschaltquoten von fast 100 Prozent erreichten. TV Globo ist einer der zentralen Institutionen der brasilianischen Gesellschaft. Es erreicht 99,2 Prozent des brasilianischen Territoriums und 99,5 Prozent aller Haushalte. Der Erfolg von Globo ist ein Phänomen, das nicht leicht zu erklären ist. Wieso hängt ein Mittelschichtspublikum in Sao Paulo allabendlich vor der gleichen Telenovela wie eine arme Bauernfamilie im Nordosten. Warum gucken das Hochhaus und die Favela nebenan allabendlich dasselbe? Warum himmeln Kinder von deutschen Einwanderern in Rio Grande de Sul die gleichen Stars an wie Nachfahren der Indios in den Städten Amazoniens? Erklärungen neigen dazu, die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache zu relativieren.
Globo ist bestürzend erfolgreich, es ist zusammen mit Karneval und Fußball die große nationale Instanz, die eine kulturelle Identität Brasiliens sichert. Eine Instanz mit Geschichte. Globo ist ein Kind der Diktatur. Ein Jahr nach dem Putsch von 1964 wurde es gegründet, der inzwischen fast neunzigjährige Besitzer Roberto Marinho war Unterstützer und Günstling der Diktatur. Die mediale Modernisierung, die sich auf US-amerikanische Technologie stützte, ist vielleicht eine der tiefgreifendsten Entwicklungen der siebziger Jahre. Globo hat die Diktatur glänzend überlebt, zumindest im letzten Augenblick hat auch Roberto Marinho die Demokratisierungsbewegung unterstützt. In jüngster Zeit waren es drei Entwicklungen und Ereignisse, die die Bedeutung von Globo markieren. Fernando Collor war der erste Fernsehpräsident Brasiliens. Ein smartes politisches Nichts wird 1989 innerhalb kürzester Zeit zu einer Alternative gegen einen drohenden Sieg der Linken aufgebaut. Sein Image: der Jäger der Korrupten. Im letzten Moment entscheidet eine Fernsehdebatte die Wahl. 1992 konnte die Nation dann erfahren, daß der Jäger der Korrupten ein selbst für brasilianische Verhältnisse übler und neurotischer Spitzbube war, der schließlich aus dem Amt gejagt wird. Der Fall Collor zeigt die Macht von Globo und deren Grenzen: die Realität wehrt sich noch bisweilen gegen die totale Medialisierung. 1992 zeigt Globo vier Wochen lang eine Miniserie über die Zeit von ’68 mit dem Titel “rebellische Jahre”. Sie trifft genau in die Zeit des Beginns des impeachment-Verfahrens gegen Collor und ist so schlecht nicht. Die StudentInnen gehen auf die Straße mit der Parole “Rebellische Jahre Teil 2”. Der Medienpräsident wird durch eine medieninspirierte Jugendbewegung in Bedrängnis gebracht. Die Mediatisierung der Realität schließt also die Opposition ein und Ironie nicht aus. An dem Tag, als Collor zurücktritt gibt es nur ein Thema: den Mord am Globo-Jungstar Daniela Perez, begangen von deren Partner in der Novela und dessen Frau. Merke: Überschätze Präsidenten und unterschätze SchauspielerInnen nicht.

Die Feinde des Imperiums

Natürlich hat Globo Feinde. Die Intellektuellen kritisieren es und schalten es immer wieder ein, schließlich muß man ja seine Feinde kennen. Aber der hartnäckigste und erbitterste Gegner von TV Globo und seinem Chef Roberto Marinho ist Leonel Brizola, der “linkspopulistische” Gouverneur von Rio. Er beglückt die brasilianischen ZeitungsleserInnen fast allwöchentlich mit seinen Botschaften, die als bezahlte Anzeigen veröffentlicht werden und wegen ihrer Form “Ziegelsteine” genannt werden. Für Brizola ist Roberto Marinho an allem schuld. Gewalt in Rio: das Fernsehen und Marinhos Zeitung (die auch Globo heißt) bauschen alles auf, um Brizola zu schaden. Außerdem ist das Fernsehen schuld an der Gewalt, weil es so gewalttätige Filme zeigt. Genüßlich zitiert es dann aus einer Untersuchung, die gezählt hat, wieviele Morde Globo durchschnittlich pro Tag in die Haushalte sendet. In seinem Haß gegen Globo hat sich Brizola im letzten Jahr schwer vergallopiert. Er hat die Kampagne gegen Collor zunächst kritisiert, weil sie sich gegen Hühnerdiebe richte, während der große korrupte Roberto Marinho… Das Argument ist immer dasselbe, Brizola kann mit irgendeinem Problem anfangen, mit Sicherheit endet er bei Globo, sein Weltbild ist völlig globozentristisch geworden. Auch in seinen Verbalinjurien geht Brizola weit. Für ihn ist Marinho der “Stalin der Medien”.

Die Auslöschung des Sozialen

Vordenker der intellektuellen Kritik am Fernsehen ist Muniz Sodr. Der Titel seines jüngsten Buches ist Programm: “Das ausgelöschte Soziale – städtische Gewalt, das Neugroteske und die Medien”. Für Sodr konstituieren die Medien eine neue Form der Soziabilität, die bestimmt ist durch unpersönliche Beziehungen. Dabei werden die dominanten Orientierungen von maximal 30 Prozent der Bevölkerung gnadenlos verbreitet und popularisiert. Die FavelabewohnerInnen sehen jeden Abend die Reklame von American Express. Die asoziale Konsum-, Vergnügungs- und Machtorientierung der Fernsehprogramme lassen andere Sozialitäten (Familie, traditionelle Kultur) verblassen. Das Fernsehen führt so zu Erosion einer personal vermittelten Sozialität. Nicht Armut an sich produziert Gewalt (sowenig wie Arbeitslosigkeit), sondern die Kombination aus Armut, sozialer Erosion und urbaner anonymer Nähe ergeben das explosive Gemisch. Im Ergebnis treffen sich Brizola und Sodr: das Fernsehen ist zumindest mitverantwortlich für die Gewalt, die das Leben in den Städten immer mehr prägt.
Dies scheint der vorher getroffenen Feststellung zu widersprechen daß Globo einer der großen Instanzen der Versicherung einer na-tionalen Identität in Brasilien ist. Ich denke, es weist eher auf den Charakter dieser Identität hin. Sie ist in dem Sinne falsch (der viel weiter ist als das Konzept der Manipulation) als sie nicht auf ein sozialisierbares Projekt hinzielt und Glücks-versprechen personali-siert.
Das große Thema der Novelas ist Liebe und an zweiter Stelle Geld. Liebe und Reichtum – wer findet das schon auf einer Gewerkschaftsversammlung. Die Radikalisierung der romantischen Liebe als das große Glücksversprechen, das auch den Armen winken mag, und die kriminelle Individualisierung der Reichtumsaneignung im Drogenhandel oder Raub sind Ausdruck desselben Prozesses der Entsozialisierung.
Die Linke hat es schwer, dagegen eine andere Lesart der Wirklichkeit zu stellen. Die immerselben Parolen (die heute noch auf T-shirts ihre Urstände feiern), wie “gemeinsam sind wir stark”, bleiben machtlos, weil unattraktiv. In der Mediatisierung des Sozialen ist Brasilien alles andere als ein Entwicklungsland, es hypertrophiert geradezu. Dies sollte für eine Perspektive des sozialeln Wandels nicht unterschätzt werden. Zumindest läßt Brasilien an einen alten Verdacht Adornos erinnern. Daß die Gefahr einer totalitären Macht weniger von einem perfekten Repressionsapparat ausgeht, als von dem Einschreiben der Herrschaft in die Bedürfnisse und das Begehren.
Nachsatz: Bei meinem letzten Besuch in Deutschland fiel mir auf, daß das Fernsehen dort dem brasilianischen immer ähnlicher wird. Vielleicht ist Brasilien doch das “Land der Zukunft”, aber in einem ganz anderen Sinn als es es sich die EntwicklungsoptimistInnen in den siebziger Jahren dachten.

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