Der Kessel kocht
Vier Monate vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft mobilisieren soziale Bewegungen in Brasilien gegen das Sportevent im eigenen Land
Am letzten Februarwochenende sind in São Paulo mehrere tausend Menschen auf der Straße. Spannung liegt in der Luft. Ein Großaufgebot der Polizei steht den Demonstrierenden gegenüber, die sich für ihren heutigen Protestzug auf dem altehrwürdigen Platz der Republik im historischen Zentrum São Paulos eingefunden haben. Ein Hubschrauber kreist tief über dem Platz und übertönt die Trommeln und Sprechchöre der Aktivist_innen. Die Hitze macht Demonstrant_innen und Polizist_innen gleichermaßen zu schaffen. Es ist die zweite Großdemonstration gegen die Fußballweltmeisterschaft in diesem Jahr in der Stadt. „Es werden Milliarden für die WM ausgegeben, doch ein großer Teil der Bevölkerung hat immer noch keinen Zugang zu Grundrechten wie Gesundheit oder Bildung“, kommentiert Talita, Aktivistin der Gewerkschaftsbewegung CPS Conlutas, während sie Flyer an Passant_innen verteilt.
Die Wut der Demonstrant_innen richtet sich gegen die enormen Ausgaben im Zuge der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele, sowie gegen die mit den sportlichen Großevents einhergehenden Räumungen und sozialen Probleme. „Die WM kommt nach Brasilien, doch die Bevölkerung wurde nicht darüber informiert, wer den Preis dafür zahlen muss“, heißt es im Ankündigungstext des Organisationsbündnisses.
Eine Stunde verspätet setzt sich der Demonstrationszug lautstark in Bewegung. „Es wird keine WM geben, es wird keine WM geben!“, hallt es immer wieder durch die Hochhausschluchten der Metropole. Auch heute bildet eine Gruppe von rund 200 schwarzgekleideten, vermummten Jugendlichen die Spitze der Demonstration. Die sogenannten Black Blocs stehen aufgrund ihres Auftretens und ihrer teils gewaltsamen Verteidigungsstrategie besonders im medialen Fokus. Während sie von großen Teilen der Öffentlichkeit als kriminelle Krawallmachende gebrandmarkt werden, verteidigen sie ihre Gewaltanwendung als Reaktion auf die Brutalität der Polizei und ihre Vermummung als Schutz vor Repression. Hinter den Black Blocs reihen sich Mitglieder sozialer Bewegungen, Gesundheits- und Bildungsorganisationen, linke Parteien und Studierendengruppen. Wie Medien später berichten, wächst die Demonstration im Verlauf auf über 2.000 Teilnehmer_innen an. Die Veranstalter_innen sprechen von 4.000.
Neben den enormen Ausgaben für die anstehenden Sportereignisse steht vor allem die Repression gegen die Protestbewegung und die Verschärfung des Demonstrationsrechts in der Kritik. „Der Terrorist trägt Uniform“ und „Brasilien, die Heimat der Handschellen“ ist auf Schildern und Bannern zu lesen, die die Demonstrierenden bei sich tragen.
Nach dem Tod des Kameramannes Santiago Andrade, der am 6. Februar bei einer Demonstration in Rio de Janeiro von einem Feuerwerkskörper getroffen wurde und wenige Tage später seinen Verletzungen erlag, erhält eine Gesetzesinitiative des rechtsgerichteten Senators Romero Juca Auftrieb. In dem derzeit im Senat diskutierten Anti-Terror-Gesetz PL499 sehen Kritiker_innen den Versuch, die Arbeit von sozialen Bewegungen im Zuge der Vorbereitungen zur WM weiter zu behindern. Mit dem Gesetz könnten als „terroristisch“ eingestufte Taten mit 15 bis 30 Jahre Haft bestraft werden. Laut dem zweiten Artikel des Gesetzesentwurfs würde das Gesetz greifen, „wenn Terror oder allgemeine Panik provoziert oder dazu angestiftet wird mittels eines Angriffs oder Versuchs eines Angriffs auf das Leben, auf die physische Integrität oder Gesundheit oder die Einschränkung der Freiheit einer Person zur Folge hat.“ Terrorismus ist in dem Gesetzesentwurf jedoch ungenau definiert und könnte subjektiv interpretiert werden, so die Kritik.
Kritiker_innen befürchten daher, dass Demonstrationen unter Anwendung des Gesetzes unterbunden werden könnten. „All jene, die gegen die staatliche Gewalt, Fahrpreiserhöhung oder die Räumungen auf die Straßen gehen, werden von diesem Gesetz bedroht sein“, meint die Aktivistin Juliana Brito vom Basiskomitee gegen die WM.
Der Gesetzesentwurf geht einher mit einer Reihe von Maßnahmen, die vor den näher rückenden Sportereignissen auf die Kriminalisierung sozialer Bewegungen abzielen. So bewies die Staatsmacht auch im Vorfeld dieser Demonstration ihre harte Hand. 40 Aktivist_innen aus São Paulo, denen unter fadenscheinigen Vorwürfen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen wird, erhielten in den letzten Tagen die Aufforderung, sich zum Zeitpunkt der Demonstration bei einer Polizeiwache zu melden. Wie der Chef der Operation Wagner Guidice bestätigte, hatten die Vorladungen zum Ziel, die Teilnahme der Aktivist_innen an der Demonstration zu verhindern. In Zukunft könnte diese Methode laut Guidice wiederholt werden. Zudem durchsuchte die Polizei in den letzten Tagen die Wohnungen von zwei Aktivist_innen. Ausbeute der Hausdurchsuchungen waren: einige Poster, Sprühdosen und ein Computer.
Auch an diesem Tag fährt die Polizei hartes Geschütz auf. Mehr als 2.000 Sicherheitskräfte sind im Einsatz und umstellen die Demonstration von Beginn an. Der Protestzug gleicht einem Wanderkessel. Eine neue Polizeispezialeinheit, die sich aus 100 Kampfsport erprobten Polizisten_innen zusammensetzt, darf am heutigen Tag erstmalig ihre Schlagkraft beweisen. Die erwarteten Auseinandersetzungen lassen nicht lange auf sich warten. Kurz nachdem die Demonstration in die Rua Xavier Toledo abbiegt, greifen Polizeikräfte ohne Vorwarnung den vorderen Teil der Demonstration an. Blendgranaten der Polizei explodieren, Tränengas liegt in der Luft. Für kurze Zeit herrscht Chaos.
Während die ersten Reihen eingekesselt werden, flüchtet der hintere Teil der Demonstration in die angrenzenden Straßen. Der Frust der Demonstrierenden über das abrupte Ende ihres Protests ist spürbar. Die Scheiben einiger Banken gehen zu Bruch. Rund um den Platz der Republik, wo Aktivist_innen ein Protestcamp aufgeschlagen haben, kommt es zu weiteren Auseinandersetzungen. Wieder explodieren Sprengsätze. Wieder kommt es zu Festnahmen. Der einsetzende Regen sorgt letztendlich dafür, dass sich die meisten Demonstrant_innen nach Hause begeben. Die Eingekesselten haben weniger Glück und müssen die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen. Insgesamt nimmt die Polizei an diesem Tag 262 Personen fest.
Noch am Abend verbreiten sich die Bilder des Polizeikessels und der Verletzten über soziale Netzwerke und fast alle Medien. Nicht nur linke Aktivist_innen sind empört. Zwar sind Polizeigewalt und Willkür keine Neuheit bei Protesten in Brasilien, doch die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes und der wohl gezielt geplante Abbruch der Demonstration übertreten für viele Brasilianer_innen eine Grenze. „Ich war im vorderen Teil der Demonstration. Von beiden Seiten waren wir von Polizisten umstellt und aus dem Nichts begannen sie damit, auf die Demonstrierenden vor mir einzuschlagen“, erinnert sich der Student Lucas Brito. Zu einzelnen Sachbeschädigungen kam es erst nach dem Angriff der Polizei. Diese sieht den Einsatz als Erfolg und rechtfertigt ihr Eingreifen damit, dass Demonstrant_innen dazu aufgerufen hätten Sachbeschädigungen in der Stadt durchzuführen.
Journalist_innen berichten unterdessen von starken Behinderungen ihrer Arbeit und Übergriffen seitens der Polizei. Fünf Journalist_innen werden an diesem Abend festgenommen. Ironischerweise befindet sich auch Sérgio Roxo von der rechtsgerichteten Zeitung O Globo unter den Verhafteten. Grund der Festnahme: Roxo hatte sich mit einem Tuch vermummt. Auch Anwälte üben scharfe Kritik an dem Polizeieinsatz am Samstag. Die Rechtsanwaltsvereinigung Advogados Activistas, die Festgenomme auf Demonstrationen kostenfrei vertritt, berichtet von massiven Behinderungen und Einschüchterungen.
„Als wir den Angriff eines Polizisten auf einen jungen Mann filmen wollten, wurden wir aus dem Polizeikessel geworfen, besser gesagt mit einem Fußtritt hinausbefördert“, berichtet Anwalt André Zanardo. Der Professor der staatlichen Universität von São Paulo Pablo Ortellado kommentiert die Ereignisse dieses Tages auf seiner Facebook-Seite: „Seit dem Ende der Militärdiktatur in den 1980er Jahren nehme ich an Demonstrationen teil. Was ich gestern erlebt habe, war nicht die gewalttätigste Repression, aber die schwersten Bürgerrechtsverletzungen, die ich jemals erlebt habe: Präventive Anklagen, hunderte willkürliche Festnahmen, Einschränkung von Pressearbeit und Behinderung der Arbeit von Anwälten. Für mich hat dies nichts mehr mit einer liberalen Demokratie zu tun.“
Trotz des medialen und zivilgesellschaftlichen Aufschreis müssen die beteiligten Polizist_innen wohl kaum mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen. Trotz regelrechter Gewaltexzesse und Verstöße auf fast jeder Demonstration wurde bislang kein Polizeibeamter für seine Taten bestraft. Diese Straflosigkeit wird durch das Fehlen jeglicher sichtbarer Identifikationsmöglichkeit noch begünstigt. Im Gegensatz dazu laufen ein Dutzend Ermittlungsverfahren gegen Aktivist_innen.
Diese können auch von institutioneller Seite kaum Unterstützung erwarten. Im Gegenteil: Das Urteil von Geraldo Alckmin, Gouverneur des Bundesstaates von São Paulo, zu den aktuellen Ereignissen fiel schnell und eindeutig aus. „Die Bevölkerung von São Paulo versteht den Unterschied zwischen legitimen Demonstrationen und organisiertem Vandalismus“, kommentierte Alckmin auf seinem Twitter-Account.
Auch für die in Brasília amtierende Arbeiterpartei PT scheint das Image des Landes im Vorlauf der WM über der Wahrung von Bürger_innenrechten zu stehen. Während Regierungsvertreter_innen noch im letzten Jahr verstärkt den Dialog mit sozialen Bewegungen und Basiskomitees suchten und öffentlich erklärten, Polizeigewalt vermeiden zu wollen, hat sich der Kurs der Regierung gewendet. Durch Einschüchterung und Repression sollen Proteste im Keim erstickt werden. Druck kommt dabei auch vom Fußballweltverband FIFA. Dieser hat unlängst erneut Garantien vom Gastgeberland eingefordert, dass mögliche Demonstrationen im Land nicht den Ablauf des Turniers stören. Die Protestbewegung steht somit vor großen Herausforderungen. Das Anti-Terror-Gesetz und die Zuspitzung der Repression könnten die Bewegung lähmen. Am vorletzten landesweiten Aktionstag, dem 25. Januar, beteiligten sich nur wenige. Viele Aktivist_innen fürchten sich vor Polizeigewalt und bleiben den Demonstrationen fern. Dass sich die Bewegung durch Repression mundtot machen lässt, darf jedoch bezweifelt werden. Die aktuellen Bilder könnten eine für die Regierung ungewollte Welle der Solidarität lostreten und die Geschichte wiederholen. Im vergangenen Juni löste die gewaltsame Niederschlagung von Protesten gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr in São Paulo wochenlange Massenproteste im ganzen Land aus. Bereits am 12. März findet die nächste Großdemonstration in São Paulo statt. „Wir werden weiter auf die Straße gehen. Mit ihrer Repression kommt auch unser Widerstand“, so Felipe Alencar von der linken Studierendenorganisation Coletivo Construção. Und eins steht fest: Die WM in Brasilien rückt spürbar näher.