Brasilien | Feminismus | Frauenbewegung | Nummer 535 - Januar 2019

„WIR WERDEN NICHT EINEN MILLIMETER ZURÜCKWEICHEN”

Interview mit Carol Vergolino, Mitglied des kollektiven Mandats JUNTAS

Jenseits der konservativen Welle in Brasilien gab es auch positive Entwicklungen bei den Parlamentswahlen im Oktober. Die Diversität der Abgeordneten ist gestiegen. So sind mehr Frauen, Schwarze und Indigene im nationalen Kongress vertreten. In den Bundesstaaten São Paulo und Pernambuco gelang es trans Frauen erstmals, Sitze in den Landesparlamenten zu gewinnen. LN sprach mit Carol Vergolino, Mitglied des feministischen, kollektiven Mandats JUNTAS, über die Ziele des Kollektivs und die Rolle der feministischen Bewegungen in der aktuellen politischen Situation.

Interview: Claudia Fix
Gemeinsam unterwegs: Die JUNTAS wollen im Kollektiv die Politik verändern (Foto: Juntas_Baixa3)

JUNTAS ist ein kollektives, feministisches Mandat im Abgeordnetenhaus von Pernambuco – warum hat sich JUNTAS gegründet?
JUNTAS wurde als Antwort auf das gescheiterte Parteiensystem gegründet. Ein Drittel der Bevölkerung hat nicht gewählt, weil es kein Vertrauen mehr in unser politisches System hat. Die Idee kommt aus der feministischen Bewegung, die wir auch schon kollektiv aufgebaut haben. Alle sozialen Bewegungen, an denen wir uns beteiligen, organisieren wir als Kollektiv. Die Idee wurde außerdem von dem allerersten kollektiven Mandat der MUITAS aus Belo Horizonte inspiriert, von der nationalen Bewegung PartidA, die Frauen dabei unterstützt, mehr politische Räume zu erobern, und von der nationalen Bewegung Ocupa política (Besetzt die Politik, Anm. d. Red.), die überparteilich Kandidaturen unterstützt. Unsere Einschätzung war, dass wir hier in Pernambuco mit einer feministischen, kollektiven Kandidatur antreten können, weil es sehr viele Frauen gab, die sich das zutrauten und das gerne machen wollten. Wir haben uns dann zu JUNTAS zusammengeschlossen.

Aber rein formal hat Jô Cavalcanti das Mandat erhalten? Wie ist die rechtliche Situation?
Ja, Jô stand auf dem Wahlzettel. Kollektive Kandidaturen sind nicht verboten, aber sie sind auch noch nicht anerkannt. Es gibt dazu ein Gesetz im Kongress, aber damit geht nichts voran.

Die fünf Kandidatinnen sind sehr unterschiedlich, in Bezug auf ihr Alter, ihre Berufe – eine trans Frau ist auch dabei – erhöht das die Unterstützung?
Wir verstehen den Feminismus, die Feminismen, als intersektional. JUNTAS ist ein Kollektiv, gebildet von einer weißen feministischen Frau, Mutter und Journalistin – das bin ich –, von einer schwarzen Frau, Anwältin aus der Favela, von einer Lehrerin und Gewerkschafterin, von einer schwarzen Straßenhändlerin und politischen Aktivistin und von eine sehr jungen Frau aus dem Agreste im Landesinneren von Pernambuco. Ich würde sagen, ja, wir repräsentieren Diversität.
Wir glauben daran, dass wir diese politischen Räume besetzen können. Und es hat funktioniert, 39.000 Menschen waren auch der Meinung, dass wir das tun können. Uns wurde immer verweigert, was uns zusteht. Eine schwarze Frau kann ein Mandat erhalten, eine trans Frau kann ein Mandat erhalten. Und dies kollektiv zu erobern entspricht dem, was wir auch schon im Alltag in anderen Zusammenhängen tun.

Gibt es schon Gesetzesvorhaben, die die JUNTAS vorbereiten?
Die große Sache bei dieser kollektiven Kandidatur ist die Veränderung des Formats. Wir haben schon die Wahlkampagne mit der feministischen Bewegung abgesprochen, mit der LGBTI-Bewegung, mit der Bewegung für Wohnraum, der informellen Arbeit, der agro-ökologischen Bewegung und der Jugendbewegung. Wir haben eine Vielzahl an Vorschlägen und ab Januar werden wir die ersten 100 Tage des Mandats planen. Ein konkretes Beispiel: Im Kulturbereich haben wir den Vorschlag, dass alle Ausschreibungen gleichmäßig nach Genderkriterien vergeben werden. In Bezug auf Jugendliche ist unser Vorschlag, dass die Schließung von Schulen im Landesinneren von Pernambuco überprüft werden soll. In Bezug auf informelle Arbeit fordern wir die Anerkennung der Arbeit der Straßenhändler*innen als Beruf. All dies in Form von Gesetzesvorhaben, so als wären wir eine Brücke der Bewegungen in die parlamentarische Arbeit. Aber wir wissen gleichzeitig, dass wir nicht die Bewegungen sind, auch wenn viele von uns in sozialen Bewegungen aktiv sind. Wir wollen den Bewegungen in der legislativen Arbeit eine Stimme geben und die Gelegenheit, diese zu erheben. Gleichzeitig brauchen wir wiederum die Kraft der Bewegungen, um im Parlament etwas zu erreichen.

Trotz des Schocks über den Wahlerfolg von Bolsonaro und seiner Partei ist der Kongress doch wesentlich diverser geworden als er vorher war. Wie bewerten die JUNTAS die letzten Parlamentswahlen?
Unserer Meinung nach gab es – trotz der vielen Sitze, die die Partei von Bolsonaro errungen hat – Fortschritte bei den Parlamentswahlen. Unsere Fraktion von der P-SOL hat die Anzahl der Sitze im Kongress von sechs auf zehn erhöht und fünf davon sind Frauen. Der Anteil der Frauen in allen Parlamenten hat sich von zehn Prozent auf fünfzehn Prozent erhöht, das ist für uns schon eine sehr positive Veränderung, auch wenn die Anzahl der Abgeordneten in Bezug auf das Geschlecht gleich sein sollte. Es gibt heute drei trans Abgeordnete, zwei in São Paulo, Erica Malunguinho und Alexya Salvador, und Robbeyoncé Lima, die Teil der JUNTAS in Pernambuco ist. Das bedeutet, dass die Leute sich tatsächlich mit den Kandidat*innen identifizieren können, sich repräsentiert fühlen.
Wir sind uns bewusst, dass es eine Zunahme des Konservativismus auf globalem Niveau gibt und gleichzeitig sehen wir auch schon die Anworten darauf, zum Beispiel in den USA: Es gibt mehr Frauen, die sich politisch engagieren, mehr Frauen aus Lateinamerika, mehr schwarze Frauen, mehr homosexuelle Männer. Gleichzeitig brauchen wir mehr Beteiligung der gesamten Bevölkerung an der Politik. Es reicht nicht aus, alle vier Jahre wählen zu gehen. Und die kollektiven Mandate erreichen genau das: mehr Partizipation.

Wie sehen die JUNTAS die Rolle der Frauen in der aktuellen politischen Situation?
Für mich sind die Frauen, besonders die schwarzen Frauen, der Schlüssel dieser Revolution. Die schwarzen Frauen in Brasilien haben nie in einer Demokratie gelebt. Sie hatten nie Zugang zu Trinkwasser, zur Gesundheitsversorgung, sie sind diejenigen, die am häufigsten in den Krankenhäusern sterben. Die Gewalt gegen Frauen ist im weißen Bevölkerungsteil gesunken, die gegen schwarze Frauen ist gestiegen. Diese Frauen haben keine Angst vor dem, was gerade passiert. Es ist das, was sie schon immer erleben. Sie sind organisiert und sie brauchen dringend einen Wandel, weil sie die Rückschritte am meisten betref­fen. Wenn zum Beispiel der Preis für Kochgas steigt, dann sind es die schwarzen Frauen mit geringem Einkommen, die anfangen, mit Alkohol zu kochen und sich dabei verbrennen. Sie spüren die ökonomische Verschlechterung buchstäblich am eigenen Leib.
In Pernambuco wurden im vergangenen Jahr 5.427 Menschen ermordet. 90 Prozent dieser Menschen sind schwarz. Und wenn ein schwarzer Mann ermordet wird, dann gibt es eine schwarze Tochter, eine schwarze Mutter oder eine schwarze Schwester dieser Männer. Die Anzahl der weiblichen Inhaftierten hat sich seit 2010 um 600 Prozent erhöht und mehr als die Hälfte von ihnen hat noch nicht einmal vor Gericht gestanden. Sie dürften gar nicht inhaftiert sein. Die Mehrzahl dieser Frauen ist schwarz. In der Presse und in der Öffentlichkeit heißt es immer die Favelas seien gewalttätig. In Wirklichkeit wird die Bevölkerung der Favelas täglich vergewaltigt: Weil sie keinen Zugang zu Bildung hat oder zur Gesundheitsversorgung.

Wie analysieren die JUNTAS die Bedrohungslage unter einer von Bolsonaro geführten Regierung?
Wir handeln als Netzwerk, gemeinsam mit den anderen Frauen, die gewählt wurden. Wir sind natürlich sehr besorgt über die möglichen Entwicklungen. Dabei ist die Rolle der internationalen Öffentlichkeit äußerst wichtig, damit die Welt erfährt, was hier passiert, wenn etwas passiert. Aber wir werden nicht einen Millimeter zurückweichen, wir gehen keinen Schritt zurück. Natürlich haben wir auch Angst, aber das ist eher etwas, was uns antreibt. Wir erleben hier einen historischen Moment, wir werden uns nicht verstecken, wir sind das historische Subjekt. Aber wir müssen uns natürlich auch schützen, am Besten durch die internationale Öffentlichkeit.

 

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