Brasilien | Dossier | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

// DOSSIER: FUSSBALL, VERTREIBUNG UND WIDERSTAND IN BRASILIEN

Fußball, Vertreibung und Widerstand in Brasilien

LN und Rosa-Luxemburg-Stiftung

(Download des gesamten Dossiers)

Fußballweltmeiterschaft der Männer 2014 in Brasilien! Mehrere hundert Millionen Zuschauer_innen weltweit werden das Spektakel verfolgen, wenn 32 Teams um den Titel spielen. Die Fans werden sich die Spiele in den Stadien oder auf Fanmeilen, in Bars oder Biergärten, bei Freund_innen oder daheim auf der Couch anschauen. In Brasilien aber werden nicht alle die Spiele von zu Hause aus sehen können, selbst wenn sie das wollten. Denn im Land der Fußball-WM 2014 droht Tausenden Menschen die Zwangsräumung: für die Bauvorhaben, die mit der Weltmeiterschaft oder den Olympischen Sommerspielen, die 2016 in Rio de Janeiro stattfinden werden, im Zusammenhang stehen.

Die lokalen Basiskomitees, die sich in Brasilien zur WM gegründet haben und die die sozialen Folgen der Groß-Events kritisieren, haben erschreckende Zahlen ermittelt. Allein in den zwölf Ausrichterstädten der WM (einschliesslich Rio als Austragungsort der Olympischen Spiele) wurden demnach bereits über 250.000 Menschen aus ihren Häusern geräumt oder sind von Räumung bedroht. Stadion- und Straßenbauten, Schnellbuslinien und Trams, Parkhäuser und Hotels, U-Bahnen und Autobahnzubringer – die vorgebrachten Gründe für Räumung und Vertreibung sind vielfältig.

Dabei gehen die Behörden nicht zimperlich mit den Bewohner_innen um. Mal werden Bulldozer und Abrißbirne ohne Vorankündigung aufgefahren, mal wird den Bewohner_innen ein Räumungsbescheid mit einer Frist von „null Tagen“ zugestellt, mal will es kein Amtstäger gewesen sein, der die Anweisung zur Räumung gab, mal ist auf dem Amt keinerlei Auskunft zu erlangen.

Die Betroffenen beklagen, dass die Entschädigungen zu gering seien und dass sie nicht angemessen in Kenntnis gesetzt wurden. Auch die vom Staat angebotenen Ersatzleistungen würden zu spät, gar nicht oder unzureichend angeboten. Ersatzwohnungen befinden sich oft in katastrophalem Zustand bei inakzeptabler Lage. So sind sie häufig in Neubaugebieten sozialen Wohnungsbaus, ohne Bus- oder Zuganbindung, Schule oder medizinische Einrichtungen in erreichbarer Nähe.Hinzu kommt, dass nicht wenige der Städte, in denen die WM im nächsten Jahr ausgerichtet werden wird, einen Immobilienboom sondersgleichen erleben. Die Grundstückspreise und Mieten in den Ballungszentrem von São Paulo und Rio de Janeiro explodieren, haben sich von 2011 bis 2013 teilweise veranderthalbfacht. Und auch vor den Morros, den Favelas in der Südzone von Rio de Janeiro, hat dieser Boom nicht halt gemacht. Infolge der „Befriedung“ dieser Hügel durch die Militär- und Polizeieinheiten in den vergangenen Jahren sind diese Favelas nun nicht nur bei wohlhabenden cariocas, sondern auch bei Tourist_innen äußerst beliebt. Sie befinden sich in perfekter Lage mit Blick auf die Traumstrände am Zuckerhut. Vor allem in Rio de Janeiro, aber auch in anderen Städten, ist dieser Prozess der Gentrifizierung massiv – und vertreibt viele der Anwohner_innen.

In Rio de Janeiro ziehen die Vertriebenen meist in die West-Zone der Stadt, wo Wohnraum noch erschwinglich ist, aber die Fahrtzeit zur Arbeitsstelle im Zentrum der Stadt auch weit über zwei Stunden dauern kann. Diese Prozesse der Verdrängung und Inwertsetzung zeigen sich in allen WM-Städten in Brasiliens, wenn auch in einigen, wie beispielsweise in Cuiabá, deutlich geringer.

Doch nirgends in Brasilien haben sich die Brasilianer_innen mit dem Gebaren der Fifa abgefunden. Den von Funktionär_innen des Weltfußballverbands angesprochenen „Tritt in den Hintern“, den Brasilien nach Fifa-Ansicht brauche, um den Zeitplan für die WM-Vorbereitungen einzuhalten, hat in Brasilien niemand vergessen. Dass Brasilien Milliarden ausgibt für WM-Bauten, die dem „Fifa-Standard“ entsprechen müssen, aber das öffentliche Bildungs-, Gesundheit- und Transportwesen im Lande gravierende Defizite aufweist, hat die Brasilianer_innen auf die Straßen getrieben. Entsprechend laut waren im Juni die Pfiffe beim Eröffnungsspiel des Confederations Cups gegen den im Stadion anwesenden Fifa-Boss Sepp Blatter und Präsidentin Dilma Rousseff. Die Brasilianer_innen zeigten Blatter und den im Land Regierenden, was ein richtiger Tritt in den Hintern sein könnte: Sie gingen zu Hunderttausenden auf die Straßen, protestierten und trieben den WM-Verantwortlichen bei Fifa und Regierung die Schweißperlen auf die Stirn.

Zu viele der schön projizierten Projekte wie „Wunderbarer Hafen“ in Rio, privat geführtes Maracanã-Stadion, Seilbahnen oder Autobahnzubringer kontrastieren die Realität der abwesenden Abwasserversorgung, der Wartezeiten bei medizinischer Behandlung oder der schulischen Bildungsmisere.

Besonders wütend wurde die Bevölkerung, als es um den WM-konformen Umbau der Stadien ging. Denn die Fifa-Regeln untersagen Stehtribünen – Sitzplätze und VIP-Lounges lassen sich eben besser vermarkten. Das Maracanã, neben Wembley und Camp Nou nach Ansicht vieler eine der drei Gralsstätten des Fußballs, sollte mit öffentlichen Mitteln modernisiert – und dann privat verhökert werden.

Doch die Proteste des Juni haben Wirkung gezeigt. Nicht alles lassen sich die Brasilianer_innen von Fifa und Regierung gefallen: Die Privatisierung des Maracanã soll rückgängig gemacht werden, angrenzende Sportstätten und ein von Indigenen besetztes Gebäude, die Aldeia Maracanã, sollen nun ebenso bleiben wie die comunidade der Vila Autódromo, die seit Jahren für den zu errichtenden Olympia-Park hätte geräumt werden sollen.
Selbst bei den Vermarktungs- und Sponsorenschutzrechten haben die Brasilianer_innen der Fifa gezeigt, was ein Tritt in den Hintern wirklich sein kann: In Bahia ließen die Straßenverkäufer_innen der acarajé – kleine, scharf gewürzte, gefüllte und frittierte Bohnenbällchen – nicht locker, als bekannt wurde, dass sie ihre traditionellen Gerichte in Stadionnähe auf Fifa-Wunsch nicht verkaufen dürften. Die Fifa knickte ein. Und die Taxifahrer_innen Salvadors blockierten beim Confederations Cup kurzerhand alle Straßen um das Stadion, weil ihnen das versprochene Extra-Geschäft komplett durch die Lappen ging, da private Fahrdienste eingesetzt wurden. Nach dem Spiel mussten dann die Nationalspieler_innen zu Fuß zum Hotel gehen.

Widerstand lohnt sich also doch. Und nach den Erfahrungen der Massenproteste im Juni dieses Jahres dürfte allen Fifa-Funktionär_innen und Regierenden in Brasília klar geworden sein, dass die Brasilianer_innen spätestens mit Anpfiff der Fußballweltmeisterschaft am 12. Juni 2014 wieder in Massen auf den Straßen sein werden – und für ihre Rechte demonstrieren werden. Denn um Rechte geht es in erster Linie – nicht um Tore. Das wissen die Brasilianer_innen ganz genau.


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