IM FEIND VEREINT
Die Solidaritätsbewegung in der BRD nahm nach dem Putsch in Chile 1973 enorme Ausmaße an
Schon nach dem Wahlsieg der Unidad Popular 1970, die zur Präsidentschaft von Salvador Allende führte, interessierte sich die hiesige Linke für dieses neue politische Projekt in Chile. Solidaritätsbewegte aus vielen Ländern gingen in das südamerikanische Land, um an den Veränderungen teilzuhaben und diese zu unterstützen. Der Putsch vom 11. September 1973 sorgte nicht nur in der BRD und der DDR, sondern in ganz Europa und weltweit für eine Welle der Solidarität, die je nach Land und politischem System von unterschiedlichen Kräften getragen wurde. In der Bundesrepublik bildeten sich Solidaritätsgruppen in den Gewerkschaften, aus den Reihen der gerade abflauenden Studierendenbewegung oder aus kirchlichen Kreisen. Es gab Chile-Komitees eher realsozialistischer Prägung, die der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) nahestanden, Komitees, die sich parteiübergreifend zusammensetzten, und eher linksradikal geprägte Chile-Komitees. Auch gründeten sich Gruppen mit spezifischer Zielsetzung, zum Beispiel in Solidarität mit politisch verfolgten Frauen oder mit den verfolgten Mitgliedern bestimmter Parteien der Unidad Popular oder der Bewegung der revolutionären Linken (MIR).
Oft wurden die politischen Grabenkämpfe über die Gründe für die Niederlage der Unidad Popular und über den richtigen Weg des Widerstandes gegen die Diktatur auch noch Jahre später unter den chilenischen Exilierten und ihren hiesigen Unterstützer*innen weitergeführt. Aus heutiger Sicht war dies aber nicht nur negativ: Gerade weil es innerhalb der Solidaritätsbewegung viele verschiedene Strömungen gab, konnte jeder Teil von ihr in anderen Bereichen wirken und Aktionen anstoßen, die in der Öffentlichkeit alle zusammen letztendlich Jahrzehnte lang das Thema der Diktatur, des Widerstandes und der Menschenrechtsverletzungen in Chile hochgehalten haben.
Die Solidaritätsbewegung hatte in der ersten Zeit nach dem Putsch die konkrete Aufgabe, denjenigen Chilen*innen zu helfen, die aus ihrem Land flüchten mussten. Die ersten politischen Flüchtlinge kamen in West-Berlin schon Ende 1973, Anfang 1974 an. Da wurden Genoss*innen zu den Ämtern, zum Arztbesuch, zum Sprachkurs begleitet, Wohnungen für die Neuankömmlinge besorgt oder diese in WGs aufgenommen. Die in Chile Verfolgten fanden hier ihre Genoss*innen, mit denen sie zusammen ihre politische Arbeit weiterführen konnten, und von denen sie konkret im Exil unterstützt wurden.
Die Chile-Bewegten wollten aber auch den Widerstand in Chile selbst unterstützen, um die Diktatur so bald wie möglich zu beenden. Dazu gehörte, die Verbrechen öffentlich und politisch anzuprangern, damit die Militärdiktatur international geächtet würde. Kritisiert wurde, dass die westlichen Regierungen die Diktatur teilweise unterstützten. Aktivist*innen demonstrierten, organisierten Veranstaltungen, verteilten Flugblätter. In West-Berlin gingen bis zu 20.000 Leute auf die Straße. Solidaritätskonzerte füllten große Hallen.
Viele von uns gingen zusammen mit den Exilchilen*innen davon aus, dass die Diktatur sich nicht sehr lange halten würde – eine Fehleinschätzung. Anfang der 1980er Jahre trat dazu eine gewisse Ernüchterung ein, die sich auch auf die Stärke der Solidaritätsbewegung auswirkte. Die Diktatur hatte sich etabliert und dem Land eine von Pinochets Beratern geschriebene Verfassung nach neoliberalen Kriterien verpasst. Sie hatte Chile wirtschaftlich in der Ideologie der „Chicago-Boys“ um Milton Friedman von Grund auf umgestaltet und unterdrückte jegliche Opposition mit eiserner Hand. Mehr noch, Chile war zum Paradebeispiel des neoliberalen Rollbacks geworden und schien unangreifbar.
Die Solidaritätsbewegung konzentrierte sich in dieser Phase auf die Solidarität mit den politischen Gefangenen und Verschwundenen in Chile, die Diskussion verlagerte sich auf das Thema Menschenrechtsverletzungen. Ein Beispiel war die Kampagne für die in Chile durch Militärgerichte zum Tod verurteilten Mitglieder der MIR (Bewegung der Revolutionären Linken), die am Schluss sogar von den inzwischen auch „menschenrechtsbewegten“ Teilen der CDU aufgegriffen wurde. Der damalige Minister Norbert Blüm flog nach Chile und stellte sich gegen die Todesurteile.
Nach dem sogenannten „entscheidenden Jahr“ in Chile 1986 und mit dem Plebiszit 1988 kam die Solidaritätsbewegung wieder in Schwung, so wie auch in Chile die Proteste im Verlauf der 1980er Jahre in der Kampagne für das No im Plebiszit kulminierten. Besonders nach der Verhaftung von Augusto Pinochet in London 1998 erlebte die Bewegung eine Art Wiedergeburt. Auf einmal konnte man erneut konkret etwas tun und für etwas kämpfen, auf das sich alle einigen konnten – egal welcher politischen Strömung der chilenischen Opposition man nahestand. Lange Zeit nicht mehr Gesichtete kamen wieder zu den Aktivist*innentreffen. Im mittlerweile vereinigten Deutschland arbeiteten inzwischen Exilchilen*innen und solidarische Menschen aus Ost- und Westdeutschland zusammen. Das in Spanien geführte Verfahren gegen Pinochet wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Diskussion über seine Auslieferung durch Großbritannien brachte ältere und jüngere Aktivist*innen zusammen und auf die Straße. Es war die letzte große Welle der Chile-Solidaritätsbewegung, mit Folgen nicht nur für Chile. Das Erbe des „Falls Pinochet“ hat das Thema der Strafverfolgung für Menschenrechtsverletzungen und das internationale Strafrecht befördert und juristisch neue Denkweisen und Strukturen geschaffen. War die Vorstellung, solche Täter*innen vor Gericht zu bringen, früher außerhalb des Denkbaren, kann sich heute kein*e Täter*in mehr sicher sein, nicht zumindest international verfolgt zu werden. Das ist, wenn man zurückschaut, vielleicht das nachhaltigste Erbe der Solidaritätsbewegung.