Jamaica im Brennpunkt
Im ersten der fünf kurzen Kapitel schildert der Autor die Geschichte Jamaicas bis 1930. Nach der Ausrottung der UreinwohnerInnen, der Arawaken, bis Mitte des 17. Jahrhunderts, steht anschließend die Periode der Sklaverei im Mittelpunkt. Wegen der Kürze bleiben tiefschürfende Erkenntnisse zwangsläufig aus, die wesentlichsten Ereignisse werden jedoch prägnant und eingängig dargestellt.
Die politische Struktur der Insel ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Das vom englischen Mutterland übernommene Mehrheitswahlrecht führte zur Herausbildung eines Zwei-Parteien-Systems, das seit den ersten Wahlen 1944 unangetastet blieb. Seitdem wechseln sich die Jamaican Labour Party (JLP) und die People’s National Party (PNP) nach zwei Legislaturperioden in der Regierungsbildung regelmäßig ab.
Die urprüngliche ideologische Polarisierung zwischen der betont anti-kommunistischen JLP und der in den siebziger Jahren den demokratischen Sozialismus verfechtenden PNP hat sich so stark nivelliert, daß die seit 1989 wieder regierende PNP das neoliberale Wirtschaftsprogramm ihrer Vorgängerin fast nahtlos fortsetzt. Positiv, daß die Wahlen vom März 1993 noch Eingang gefunden haben, eine Aktualität, die bei Büchern nicht selbstverständlich ist.
Aktuell auch das die Wirtschaft beleuchtende Kapitel. Die krasse Verschuldungssituation von 4,5 Mrd. US-Dollar Anfang 1993, die gut 40% der Exporteinnahmen an den Schuldendienst bindet, schränkt den wirtschaftspolitischen und mittelbar den sozialpolitischen Spielraum strikt ein. Hiervon ausgehend beschreibt der Autor die auf den drei Pfeilern Bauxit, Zucker und Tourismus beruhende Ökonomie Jamaicas. Angerissen wird die steigende Bedeutung des informellen Sektors, der Schätzungen zufolge schon 350.000 Personen der 2,5 Millionen-Insel umfaßt. Die Integrationsbestrebungen der englischsprachigen Karibikländer untereinander werden ebenso angesprochen wie die Marihuana-Produktion. Dieser wird sogar ein Exkurs gewidmet, in dem die sich verschlechternde Lage für die Kleinbauern als Ursache für den steigenden Ganjaanbau ausgemacht wird.
Charakteristika und aktuelle Entwicklungen der Gesellschaft werden im folgenden Kapitel skizziert. Migration, früher legal, inzwischen aufgrund der restriktiven Politik in den USA, Groß-britannien und Kanada vorwiegend illegal betrieben, stellt eines der Hauptmerkmale dar. So haben allein 1990 25.000 JamaicanerInnen die Insel zwecks Verbesserung ihrer materiellen Lage verlassen, und die Tendenz ist steigend. Dem Niedergang des Erziehungs- und Gesundheitswesens seit Mitte der siebziger Jahre widmet der Autor ebenfalls sein Augenmerk. Ehemals im Vergleich der englischsprachigen Karibik unter den Top 3 des Bildungsstandards, haben nun nur noch Guyana und Grenada schlechtere Werte.
Innerhalb der Vielfalt der Religionen räumt der Verfasser dem Rastafarianismus und einem seiner Propheten, Marcus Garvey, den breitesten Raum ein. Nicht aus quantitativen Gründen, bei einem Bevölkerungsanteil von um die 5%, sondern weil er dem Einfluß der auf schwarzes Bewußt- und Selbstbewußtsein zielenden Bewegung größere Bedeutung beimißt.
Der maßgebliche Einfluß der Rastafaris auf den Reggae mit seinem exponiertesten Vertreter, Bob Marley, findet im abschließenden Kulturkapitel seinen Niederschlag. Der Kulturpart, ergänzt durch kurze Ausführungen zu Theater, Sport und Festivals, gerät aber eindeutig zu kurz, vor allem da dessen Stellenwert noch in der Buchankündigung nachdrücklich unterstrichen wurde.
Überhaupt ist die klassische Reihenfolge mit Gesellschaft und Kultur als Schlußthemen einer der zu kritisierenden Punkte. Daß der Ökologieproblematik kein eigenes Kapitel gewidmet wird, ist verständlich, daß sie nicht einmal erwähnt wird, jedoch nicht. Kleinere Recherche-Fehler, zum Beispiel die Ansiedlung des größten Reggaefestivals, dem “Reggae Sunsplash”, in Montego Bay, statt, wie allerdings erst seit 1993, in Kingston, sowie den in Jamaica geborenen Kanadier Ben Johnson als berühmtesten Sportler der Insel zu bezeichnen, trüben den positiven Gesamteindruck zusätzlich. Insgesamt aber läßt sich das schön gestaltete und ausreichend bebilderte Werk ohne weiteres als Einstiegslektüre für Jamaica-Interessierte empfehlen.
Marcel Bayer. Jamaica in Focus: A Guide to the People, Politics and Culture. English Edition Latin America Bureau. Dieses Buch ist über den LN-Vertrieb erhältlich, Preis DM 16,80.