Argentinien | Nummer 348 - Juni 2003

Jenseits des Asphalts

Am 1. Mai machte die Arbeitslosenbewegung nicht nur mit Straßenblockaden auf sich aufmerksam

Viele der sozialen Bewegungen, die nach der Krise des Dezember 2001 sichtbar wurden, entstanden bereits Mitte der neunziger Jahre. Waren traditionell nur beschäftigte ArbeiterInnen politisch repräsentiert, so sind es heute vor allem die Bewegungen der Arbeitslosen, die alternative Organisationsformen aufzeigen. Die argentinische Linke bewegt sich indes nach wie vor zwischen der Suche nach gemeinsamen Zielen und Strategien und internen Grabenkämpfen.

Maricel Rodríguez Blanco

Am diesjährigen Tag der Arbeit erwachte Argentinien mit 18 Prozent Arbeitslosigkeit und mit einer weitaus höheren Unterbeschäftigung. Mehrere tausend ArbeiterInnen, heute arbeitslos, marschierten zur Plaza de Mayo, dem politischen und symbolischen Zentrum von Buenos Aires. Aus allen Landesteilen strömten sie zusammen: die BesetzerInnen der Keramikfabrik Zanón aus dem südlichen Neuquén oder die ehemaligen ArbeiterInnen der einst staatlichen Ölgesellschaft Yacimientos Petrolíferos Fiscales (YPF), die wie so viele im Zuge der Privatisierungen unter der Regierung von Carlos Menem ihre Jobs verloren hatten. Bevor sie zur Plaza de Mayo zogen, trafen sie sich allerdings bei der Textilfabrik Brukman, die bis vor kurzem ebenfalls besetzt war. In den Tagen vor der Präsidentschaftswahl des 27. April wurde sie durch einen brutalen Polizeieinsatz geräumt. Dort war die Stimmung festlich, es herrschte ein Gefühl von Solidarität und Bewunderung für die ArbeiterInnen, die ihren Posten verteidigt hatten. Dieses Gefühl drückte sich in allen Reden aus, seien sie von VertreterInnen der linken Parteien wie des Movimiento Socialista de los Trabajadores (MST) oder des Polo Obrero, von Stadtviertel-Versammlungen den so genannten Asambleas Populares oder von Studentenbewegungen.
1890 führte der deutsche sozialistische Klub Vorwärts den Tag der Arbeit in Argentinien ein. Der Tag hatte einen klassenkämpferischen Charakter, verknüpft mit anarchistischen Strömungen, bis Juan Perón ihn für den Staat vereinnahmte und zum Nationalfeiertag erklärte. Im krisengeschüttelten Argentinien des Jahres 2003, mit der höchsten Arbeitslosenquote der Landesgeschichte, erscheint das Datum in neuem Licht.
Zum Beispiel in La Matanza, einem der ärmsten Vororte von Buenos Aires, wo sich ein Großteil der Kinder an diesem wie an jedem Tag in die Gemeindezentren begibt, um einen Teller mit Essen zu erhalten. Fast eineinhalb Millionen Menschen leben hier. Auch wenn nicht alle von der staatlichen Sozialversorgung ausgeschlossen sind, so befinden sich die meisten doch an ihrem Rand.
La Matanza ist ein heterogenes Konglomerat alter und neuer MigrantInnen aus dem Landesinnern und den Nachbarländern Argentiniens. Es ist der Bezirk mit den meisten Straßenblockaden des Landes, was bei einer Arbeitslosigkeit von 45,7 Prozent wenig verwundert. Weil es hier 680.000 WählerInnen gibt, zehn Prozent der gesamten Provinz Buenos Aires, ist es außerdem einer der wichtigsten Wahldistrikte Argentiniens. Zugleich gilt es seit jeher als eine sichere Hochburg des Peronismus. Die letzten Bürgermeisterwahlen gewann der peronistische Kandidat, ein enger Verbündeter des derzeitigen Übergangspräsidenten und ehemaligen Gouverneurs der Provinz Buenos Aires, Eduardo Duhalde, mit über 75 Prozent der Stimmen.
Zwei Tage vor der Präsidentschaftswahl hielt Néstor Kirchner, der von Duhalde bevorzugte Kandidat, auf dem Mercado Central von La Matanza seine Abschlusskundgebung. Umgeben von Lärmbomben, Trommeln und Flaggen, gab sich Kirchner als Vertreter aller, die „das wirtschaftliche Modell der Neunziger“ ablehnen und rief dazu auf, „eine Regierung der nationalen Einheit zu schaffen.“ Von derselben Bühne, von der Papst Johannes Paul II. 1978 sprach, versprach Kirchner den Arbeitslosen: „Ihr werdet einen Präsidenten haben, der auf der Seite der Arbeitslosen steht, um ihnen die Würde der Arbeit wiederzugeben.“

La Matanza, die Hochburg des Peronismus

Tatsächlich errang Kirchner bei der Wahl vom 27. April eine deutliche Mehrheit in La Matanza, obwohl Ex-Präsident Carlos Menem hier in den neunziger Jahren überwältigende Wahlsiege einfuhr. Einer der Hauptgründe für das Wahlverhalten liegt darin, dass Kirchner die Kontinuität des so genannten „Plan der Haushaltschefs“ garantierte. Dieser Plan ist ein von Duhalde erlassenes Programm monatlichen finanziellen Beistands für Not leidende Familien, dem immer wieder vorgeworfen wurde, es komme hauptsächlich Duhalde-AnhängerInnen zugute. So hat der klientelistische Apparat des Peronismus in den Vororten wieder einmal seine Effizienz bewiesen.
Vor diesem Hintergrund lehnte der MTD (“Bewegung arbeitsloser ArbeiterInnen”) von La Matanza derartige staatliche Beistandsprogramme seit seiner Gründung im Jahre 1995 ab. Neben anderen sozialen Bewegungen stimmt der MTD seine Forderungen mit den besetzten und selbstverwalteten Unternehmen ab, deren Hauptziel darin besteht, dass ihre Produktionseinheiten als „soziales Gut“ anerkannt werden. Über die Rechtsfigur der Genossenschaft haben ArbeiterInnen nach ihrer Entlassung in vielen Fällen die Führung von Fabriken übernommen, deren Produktionsweise durch Resolutionen in allgemeinen Versammlungen reguliert wird.
Der MTD in La Matanza ging aus einer Nachbarschaftsvereinigung gegen Stromkürzungen hervor. Während die so genannten Piqueteros mit Straßenblockaden auf sich aufmerksam machten, handelt es sich beim MTD hingegen um eine Protestform jenseits des Asphalts. Seine Aktivitäten umfassen Werkstätten und Erziehungsmaßnahmen. Die Werkstätten erfüllen dabei nicht nur den Zweck, die grundlegenden Bedürfnisse ihrer Teilnehmer zu decken, sondern sollen auch die Unabhängigkeit der Bewegung stärken. Ein ständiges Diskussionsthema sind dabei die Spannungen zwischen denen, die staatliche Unterstützung annehmen und jenen, die diese Hilfe ablehnen.

Piquetero – eine flatterhafte Identität?

Die offizielle Linie des MTD ist es, staatliche Sozialprogramme zurückzuweisen, da sie „eine Herrschaftswaffe“ seien, wie Toti Flores, Führungsperson des MTD, sagt. Ebenso weit verbreitet sei die Ablehnung gegen eine häufige Praxis der in den letzten Jahren entstandenen unabhängigen Gewerkschaften und vieler Piquetero-Bewegungen: „Eine Tüte Essen fürs Blockieren der Straße“. Kritik übt Flores auch an der langfristigen Strategie der Piqueteros. „Eine Identität, die besagt ‘Wir sind alle Piqueteros’ ist sehr nett, aber flatterhaft“, sagt er. „Als Piquetero kannst du dich nur einen kurzen Moment lang zeigen, wenn du auf der Straße stehst. Ein selbstbestimmter Arbeiter zu sein, erscheint mir dagegen auf Dauer sehr viel sinnvoller, weil sich daraus eine ganz andere Kraft und Dynamik entwickeln kann.“
Ein weiteres Problem besteht im legalen Statut des MTD. Da er sich als Genossenschaft eingetragen hat, muss er sich auch an die dafür geltenden Rechtsnormen halten. So greift der Staat als Rückhalt für die abgeschlossenen Verträge ein, die die Nutzung der Räumlichkeiten garantieren. Dies führte aber auch dazu, dass man einige Ämter wie beispielsweise Direktor, Schatzmeister und Generalsekretär bestimmen musste, die dem MTD-Prinzip der organisatorischen Gleichberechtigung widersprechen. Dies stelle aber letztlich nur eine Formalität dar, so versichert der MTD.
Ebenso zerstritten war die Linke über die Frage, wie man sich gegenüber der Präsidentschaftswahl verhalten solle. Während der Vorsitzende des unabhängigen Gewerkschaftsverbandes Central de Trabajadores Argentinos (CTA), Víctor de Gennaro, dazu aufrief, Kirchner, Elisa Carrió oder einen sozialistischen Kandidaten zu wählen, empfahlen andere leere Stimmzettel abzugeben. Der MTD in La Matanza enthielt sich hingegen jeglicher Vorgabe. Obwohl der MTD die Teilnahme an Wahlen seit seiner Gründung abgelehnt hat, ließ die Möglichkeit einer erneuten Präsidentschaft Menems zum ersten Mal Zweifel an dieser Position aufkommen.
Die Stimmung vor der Textilfabrik Brukman gab an diesem Tag dennoch Hoffnung, dass die Linke in Zukunft gemeinsame Ziele und Wege finden kann. Mehr als zehn Reden werden gehalten, darunter die einer Frau aus dem fernen Norden Argentiniens: „Wir sind 2400 Kilometer aus Salta gekommen, um die Genossinnen und Genossen von Brukman zu unterstützen. Wir haben gemerkt, dass wir diesen Kampf zusammen führen müssen. Es reicht nicht aus, dass wir uns vereinzelt für das Brot unserer Kinder bemühen,“ sagt sie.

KASTEN:

Brandzeichen – eine Filmdoku
Brandzeichen heißt der neue Dokumentarfilm des Berliner „Tiefsehkollektivs“ AK Kraak. Zwei Frauen aus Berlin sind Anfang Februar 2002 nach Argentinien gereist und haben dort die Momente einer Rebellion dokumentiert: die Proteste der Bevölkerung, die cazerolazos, die asambleas – der Film fängt die Aufbruchsstimmung ein, die zu diesem Zeitpunkt in Argentinien herrscht. Die ganz persönlichen Geschichten und Sichtweisen der zahlreich befragten ArgentinierInnen stehen im Mittelpunkt neben Erläuterungen zur Geschichte und den Hintergründen der argentinischen Krise. Außerdem legen die Filmschaffenden auch auf sympathische Weise den eigenen Produktionsprozess offen: Wie verhält man sich als Kamerafrau bei Protestaktionen in einem anderen Land? Wie werden die DemonstrantInnen reagieren, wenn jemand mit einer Kamera auftaucht und die Straßenbesetzung filmt? In der Doku kommen viele argentinische Stimmen zu Wort: Leute von der Straße, Piqueter@s, ArbeiterInnen, die die Textilfabrik Brukman besetzt hatten (die Aufnahmen wurden vor der Räumung gemacht), Abuelas von der Plaza de Mayo und Kinder von Verschwundenen, die mit Enthüllungsaktionen gegen die Straflosigkeit und das Vergessen kämpfen.
Brandzeichen – Momente einer Rebellion wird voraussichtlich ab dem 24.07.2003 im Lichtblickkino Berlin / Kastanienallee 77 gezeigt.
Informationen zum Film und Kontakt: akkraak@squat.net oder Fon: 030 / 44047458

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