Nummer 361/362 - Juli/August 2004 | Öffentliche Güter

Kampf gegen Bürokratie-Windmühlen

Wer in Chiapas Indígena-Pädagogik studieren will braucht starke Nerven

Durch eine Dauerdemo vor dem Rathaus in San Cristobal wollen StudentenInnen der pädagogischen Hochschule für indigene bilinguale interkulturelle Bildung endlich bessere Studienbedingungen erstreiten. Sie erhalten keine staatliche Unterstützung. Und die zuständigen Autoritäten wiederholen immer dieselben Argumente: Mehr ist nicht drin und eigentlich ist alles großartig. Doch nicht nur die StudentenInnen vermuten hinter dem staatlichen Handeln eine Strategie, um kritisches Denken auf dem Land zu verhindern.

Dinah Stratenwerth

Vor dem Rathaus in San Cristobal de las Casas, Chiapas, schwingt ein Spinnweben im Wind und trieft im Regen. Die Fäden spannen sich von den Säulen vor dem Kolonialgebäude zu den Bäumen des Parks gegenüber und haben auch die Kanonen eingesponnen, die den Eingang zum Rathaus schmücken. Die Schnüre spannen bunte, behelfsmäßige Zelte aus Plastikplanen auf und sperren ein Areal vor dem Rathaus ab. Auf Transparenten und Zetteln wird der Grund für die Belagerung des Rathauses erklärt:
Seit dem 8. Juni streiken die StudentenInnen einer pädagogischen Hochschule für würdige Studienbedingungen. Ihre Forderungen sind grundlegend: Ein eigenes Gebäude, bessere und ausreichende Dozenten und gerechte Behandlung im Vergleich mit anderen Hochschulen. Denn die Streikenden gehören zur ersten und einzigen „Escuela de educación bilingue intercultural indígena Jacinto Canek“ (Hochschule fuer zweisprachige, interkulturelle und indigene Bildung Jacinto Canek“) in Chiapas. Das bedeutet, dass sie alle eine indigene Sprache lesen und schreiben können und dafür ausgebildet werden sollen, diese zu unterrichten. Doch was schön klingt, funktioniert in der Praxis schlecht. Die Schule erhält keinerlei Unterstützung vom Staat. Die StudentenInnen fühlen sich diskriminiert und sehen darin die politische Absicht: den Indígenas eine gute Ausbildung zu verweigern, um kritisches Denken in einem der ärmsten Staaten Mexikos zu verhindern. Die Probleme ihrer Schule seien symptomatisch auf dem Weg Mexikos hin zu einer privatisierten Bildung
Die zuständigen Politiker auf bundesstaatlicher und kommunaler Ebene sind hingegen sehr optimistisch und malen ein schönes Bild der indigenen Bildung. Der Staat fördere die Bildung der Indígenas wie nie zuvor, heißt es da, und alles ist unter Dach und Fach. Der Gouverneuer von Chiapas, Salazar Mendiguchea, behauptete zum Beispiel die indigene Bildung habe Priorität in seiner Politik.

Kritisch, reflexiv und analytisch
Das Zeltlager ist voll von Transparenten, die die Forderungen der StudentenInnen ausdrücken. Das größte zeigt Subcommandante Marcos, Zapata, Che Guevara, und Lucio Cabañas. Letzterer ist so etwas wie der Schutzheilige der StudentenInnen: In den sechziger Jahren kämpfte er als Lehrer und Guerrillero an einer pädagogischen Hochschule auf dem Land in Guerrero für soziale Gerechtigkeit. Neben dem Transparent mit den Konterfeis der vier Revolutionshelden führt ein kleiner Pfad zwischen Plastikplanen zum versteckten Eingang des größten Zeltes. Drinnen wärmt ein kleiner Kohleofen die Streikenden, die jeden Tag dem chiapanekischen Regen trotzen. Das Zelt ist voll von StudentenInnen mit ernsten Gesichtern, aber nur einer beantwortet alle Fragen: Daniel, ein kräftiger Glatzkopf mit einem freundlichen Gesicht, dem anzumerken ist, dass er schon oft erklärt hat, was er und seine Kommilitonen wollen.
Zweisprachige, interkulturelle Erziehung bedeutet für ihn vor allem „SchülerInnen zu unterrichten auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und Umgebung.“ Es sei wichtig, betont er, dass die SchülerInnen in ihren Sprachen Lesen und Schreiben lernten, damit die indigenen Sprachen weiterlebten und nicht alle nur noch spanisch sprächen.
In Chiapas werden 13 indigene Sprachen gesprochen. Die am häufigsten gesprochenen sind Tzotzil und Tzeltal, die Muttersprache von vielen StudentenInnen. „Oft werden die Lehrer in Orte geschickt, wo ihre eigene Muttersprache gar nicht gesprochen wird“, erklärt Daniel, „außerdem war die Ausbildung der LehrerInnen für die indigene Bildung in der Vergangenheit sehr viel schlechter. Sie brauchten nur ihr Abitur und wurden schon an die Schulen geschickt.“ Nach dem Abitur gab es noch einen zweimonatigen Kurs, um die zukünftigen LehrerInnen in die Besonderheiten der indigenen Erziehung einzuweisen.
An der Hochschule Jacinto Canek dauert das Studium vier Jahre. Ihre Gründung im Jahr 2000 war ein Ergebnis der Friedensverhandlungen von San Andres Larainzar zwischen den ZapatistInnen und der mexikanischen Regierung. Eine Komission von StudentInnen hat schon bei einer zapatistischen Versammlung um Unterstützung gebeten, aber die Antwort steht noch aus. „Die ZapatistInnen bauen ihre Autonomie ohne die mexikanische Regierung auf und wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben“, so erklärt es eine Studentin: „Vielleicht werden uns die ZapatistInnen nicht unterstützen, da wir unsere Forderungen an die Regierung stellen.“

Prekäre Bedingungen
„Richtiges Lernen ist an der Schule nicht möglich“, so Daniel, „denn sie hat kein eigenes Gebäude, sondern mietet am Nachmittag die Räume einer Grundschule mit Kinderstühlen und Kindertischen“. 13 Lehrer unterrichten 264 Studenten in 8 Semestern. Und diese Lehrer sind meistens schlecht ausgebildet und erscheinen auch mal betrunken zum Unterrricht. Es gibt noch mehr, wogegen die StudentInnen protestieren: Die Einschreibegebühren und die Gebühren für die Prüfungen sollen auf das fünf- bis zehnfache angehoben werden. Eine Prüfung kostet dann nicht mehr 50 pesos ( etwa 4 Euro), sondern 550 (etwa 42 Euro). „Wie sollen wir das bezahlen, die wir alle aus armen Familien kommen?“ fragt Daniel und zieht aufgeregt an seiner dicken Weste. Zumal der Job nach dem Studium noch nicht einmal sicher ist, wie anfangs versprochen. Alle hatten sich eingeschrieben und dabei das Versprechen bekommen, automatisch einen Arbeitsplatz in einem Dorf, in dem ihre Sprache gesprochen wird, zu bekommen. Das ist jetzt vorbei: Die HochschulabgängerInnen sollen erst ein Examen ablegen, und dann werden die besten ausgewählt. Dabei sehen die StudentInnen zwei Probleme auf sich zu kommen: Erstens sind sie wegen ihrer schlechten LehrerInnen nicht gut vorbereitet und zweitens sind sie die einzige Hochschule für indigene Erziehung. Wie sollen sie zu den anderen in Konkurrenz treten?

Ein anderes Chiapas
Diese Frage ist für den Pressesprecher der Regierung im Rathaus, vor dem die Studenten kampieren, leicht zu beantworten: „Statt hier zu protestieren, sollten sie zu Hause sein und studieren“, sagt Hector Santiago, der mit seiner Weste und seinem jugendlichen Aussehen fast einer der Streikenden sein könnte. Nur was er sagt, klingt ganz anders. Seiner Ansicht nach wäre es ungerecht, die StudentInnen der Jacinto Canek nicht dem gleichen Examen zu unterziehen wie alle anderen PädagogikstudentenInnen. „Wenn sie gut vorbereitet wären, hätten sie auch keine Angst vor dem Examen“, meint er. Es gäbe einfach zu viele fertig ausgebildete LehrerInnen, so Santiago, daher sei eine Auswahl nötig. Das liegt auch daran, dass in vielen Dörfern Schulen fehlen, aber „neue Schulen sind teuer. Nicht nur die Gebäude, sondern auch die Straßen dort hin müssen gebaut werden“, gibt er zu bedenken. Abgesehen von diesen Problemen spricht Santiago aber von einem ganz anderen Chiapas als die StudentInnen. „Die jetzige Regierung fördert die indigene Bildung mehr als jede andere zuvor“, betont er „es werden Schulen gebaut und Lehrer ausgebildet, und wir lernen alle gerade eine Indígena-Sprache“. Das Bild von Chiapas, das er mit seinen Worten malt, ist fast zu schön, um wahr zu sein.
Diego Guzman hat einen anderen Eindruck. Er arbeitet im Sna Jtz’ibajom einem vom Staat unabhängigen Institut, das indigene Sprachen unterrichtet und Bücher herausgibt. „Es haben immer alle von der Wichtigkeit der indigenen Bildung geredet“, sagt er, „aber funktioniert hat das noch nie“.
Das Projekt der indigenen Bildung in Mexiko stammt aus den 30er Jahren. Damals war das Ziel vor allem die Verbreitung des Spanischen. Und auch bilinguale Lehrer, die in den 70er Jahren auf dem Land unterrichteten, versuchten eher die spanische Sprache zu etablieren als die indigenen zu erhalten.

Plurikulturalität im Schulbuch
Seit 1992 Mexiko in der Verfassung als plurikultureller Staat angesehen wird, versucht auch die staatliche Bildung einen neuen Weg einzuschlagen: In neuen staatlichen und kostenlosen Schulbüchern wird die Plurikulturalität betont. Und viele Staaten haben eigene Institute für indigene Bildung und Bücher in den indigenen Sprachen.
Dennoch, so insistiert Guzman, funktioniert es nicht. „Manchmal werden die Lehrer von ihrer Arbeit in den Dörfern weggeholt, um an Versammlungen und bürokratischen Treffen teilzunehmen“, erzählt er gequält lächelnd. Tatsächlich liegen an den Straßen in den chiapanekischen Bergen erstaunlich viele Schulgebäude – mit erstaunlich wenig Schülern. Woran liegt das? „Ein riesiger bürokratischer Apparat“ ,meint Guzman, „der alles schluckt.“

Trend zur Privatisierung
Auf dem Papier scheint die Situation der mexikanischen Bildung nicht nur auf der Ebene der indigenen Bildung gut zu sein: Schulen und Unis müssen gratis, laizistisch und autonom sein, sagt die Verfassung im dritten Artikel, auf den sich auch die Streikenden immer wieder beziehen. Und auch die Schulbücher bekommen alle Kinder landesweit umsonst. Doch, so beteuert Guzman, „die Tendenz zur Privatisierung der Bildung in Mexiko verursacht Kopfschmerzen.“ Immer mehr der pädagogischen Hochschulen auf dem Land verschwinden, dafür gibt es immer mehr Private Hochschulen, die für die arme ländliche Bevölkerung unbezahlbar sind. Darauf hatten die StudentInnen der Mexikanischen Autonomen Universität (UNAM) schon bei ihrem Streit vor vier Jahren aufmerksam gemacht. Für StudentInnen mit knappen finanziellen Mitteln werden technische Studiengänge angeboten, die zur Arbeit in Fabriken qualifizieren und letztlich nur das Missverhältnis zwischen schlecht ausgebildeten und bezahlten ArbeiterInnen und an Privatunis lernender Oberschicht verstärkten. Diese Befürchtung teilen auch die StudentInnen von der Jacinto Canek.
Auf der Internetseite des Bildungsministeriums wird es in einem Text zur Geschichte der indigenen Erziehung die neue Aufgabe des Staates in einer globalisierten Welt betont. In neoliberaler Manier heißt es dort, Aufgabe des Staates sei es angesichts von Freihandelsverträgen und neuer Wirtschaftsordnung, nur noch einen legalen Rahmen für die Entwicklung von Individuen zu gewährleisten. Und für die Entwicklung von privaten Bildungsinstitutionen, könnte man hinzufügen.
Diego Guzman nennt einen weiteren Grund für die Marginalisierung der ländlichen Hochschulen: Mexikanische PolitikerInnen fürchten sich vor gut gebildeten Indigenas: „Sie haben Angst, weil sie unsere Sprachen nicht verstehen“, lacht er, „und dann denken, wir planen heimlich eine Revolution“. So wie Lucio Cabañas in Guerrero, der heute von dem Transparent auf die StudentInnen hinabsieht.

Enttäuschung auf der ganzen Linie
Diese planen indes gar keine Revolution, sondern wollen nur, dass ihre Forderungen erfüllt werden. Nach einer Woche Warten soll endlich etwas passieren: Um halb zwölf Uhr nachts wird der Direktor des Instituts für Indigene Bildung in Chiapas, Guadalupe Gómez Cruz, erwartet. Um das Rathaus fahren Kombis der Polizei ohne Nummernschilder, und die Streikenden haben sich mit Knüppeln bewaffnet. In ihren Gesichtern wechseln sich Angst und Hoffnung ab.
Dann, wie aus dem nichts, taucht plötzlich eine Delegation von fünf anständig gekleideten Männern mit Aktenmappen unter dem Arm auf. Sie gehen zu Fuß und zögern kurz, bevor sie die Schnüre passieren, die das Camp absperren. Die beiden Parteien stehen sich einige Minuten schweigend gegenüber. Schließlich ruft einer der Streikenden in die Stille: „Adelante Señores!“ („Bitte sehr, meine Herren“). Die fünf zögern noch, aber schließlich klettern sie auf die Bühne, sich an ihren Papieren festhaltend. Ein allgemeines „schtscht“ sorgt für Ruhe, und Gómez Cruz beginnt das Dokument zu verlesen, das auf die Forderungen der StudentInnen antwortet.
Schon nach den ersten drei Punkten macht sich in den Gesichtern Enttäuschung breit. Keine der Forderungen wurde erfüllt. Das gedrechselte Amtsspanisch vermeidet jede klare Aussage. So wird eine Mindestsumme für die Einschreibegebühr genannt, aber keine Obergrenze. Was das Gebäude angeht, so sollen die StudentInnen sich am folgenden Tag in einer anderen Hochschule einfinden, um künftig mit dieser ihre Räume zu teilen. Und die Auswahlprüfungen finden den dementsprechenden Gesetzen folgend statt. Punkt.
Bis Gómez Cruz endet, herrscht völliges Schweigen. Danach hebt ein Student die Hand für eine Nachfrage: Was ist denn aus dem Grundstück geworden, das uns schon einmal für ein eigenes Gebäude versprochen wurde? Gómez Cruz, ein kleiner Mann mit tiefen Falten in der Stirn, äußert unbeteiligt, dass darüber noch verhandelt werde. „Dies ist die offizielle Antwort“ wiederholt er dann nur noch, und schließlich: „Wer nimmt das Dokument entgegen?“ Jetzt entlädt sich die Wut der Studierenden: „Niemand“, rufen viele, und die fünf Männer ziehen sich schnell, noch immer zu Fuß, in eine andere Richtung zurück, verfolgt von Protestrufen der StudentInnen. „Wir kämpfen weiter“, das ist für sie völlig klar. Daniel erhält noch einen Anruf von Gómez Cruz, der ihn daran erinnert, um zwei Uhr am nächsten Tag in der anderen Hochschule zu sein. Sonst, so die Drohung, verlieren die StudentInnen das Semester.
Danach warten alle auf die Polizei, aber sie kommt nicht, nicht in dieser Nacht.
Schließlich bekommen Daniel und seine MitstreiterInnen doch noch die Gelegenheit zu verhandeln: Am nächsten Tag wird in der anderen Hochschule ein runder Tisch einberufen. Gómez Cruz erscheint wie immer mit Aktenordner und undurchschaubarer Mine, die StudentInnen sehen müde aus.
Während sie erneut ihre Forderungen formulieren, findet in einem anderen Raum Unterricht statt. Die meisten Studierenden des Abschlusssemesters wollen nicht an den Protesten teilnehmen.
„Mir gefallen diese Aktionen nicht“, sagt eine Studentin, „ich bin zufrieden mit den neuen Räumen hier. Und ich habe auch kein Problem damit, das Examen abzulegen, um einen Job zu bekommen.“ Auch die erhöhten Einschreibegebühren stören sie nicht. Es gebe sowieso zu viele BewerberInnen, meint sie, und durch erhöhte Gebühren werde ein wenig selektiert.

Räumung droht
Die Verhandlungen haben nicht mehr ergeben als der nächtliche Besuch vor dem Rathaus: Es gibt kein Gelände und es gibt nicht mehr LehrerInnen. Ihr Semester haben die Streikenden bereits verloren. Sie halten weiter im Spinnennetz unter ihren Plastikplanen aus. Lange werden sie dort nicht mehr sein, denn eine Räumung ist jede Nacht wahrscheinlicher.

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