Brasilien | Nummer 273 - März 1997

Kampf um die Schollen geht weiter

Die ungebrochene Mobilisierungskraft der Landlosenbewegung MST

Seit 12 Jahren kämpft Brasiliens Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) mit Landbesetzungen und anderen militanten Aktionen für die Umsetzung der längst überfälligen Agrarreform und entwickelt noch immer eine erstaunliche Mobilisierungskraft. Während alle anderen sozialen Bewegungen, allen voran die Gewerkschaften, der neoliberalen Wirtschaftspolitik kaum nennenswerte Proteste entgegensetzen, scheint Brasiliens Landlosenbewegung MST ihre Aktivitäten von Jahr zu Jahr zu steigern.

Jutta Bangel

Ursprünglich nur im Süden Brasiliens aktiv, haben die Landlosen des MST ihre Aktivitäten inzwischen auf 22 der insgesamt 27 brasilianischen Bundesstaaten ausgedehnt. Allein im letzten Jahr hat der MST 176 Landbesetzungen in ganz Brasilien organisiert, an denen rund 45.000 landlose Familien beteiligt waren. Insgesamt knapp 140.000 Familien konnte dadurch zur Ansiedlung auf eigenem Land verholfen werden. Heute bewirtschaften die ehemals Landlosen 7 Millionen Hektar Boden und betreiben ein paar Dutzend Kooperativen. Mit Hilfe staatlicher Gelder hat der MST in den vergangenen Jahren Millionen Dollar in die technologische Ausstattung agroindustrieller Betriebe investiert und sich durch geschickte Verhandlungen vor allem im Süden des Landes die Unterstützung der staatlichen Agrarbehörden gesichert. Wandelt sich der MST allmählich von einer radikalen sozialen Bewegung zum “Wirtschaftsunternehmen mit Zukunft”, wie die brasilianische Monatszeitschrift República im Dezember letzten Jahres ahnungsvoll mutmaßte?
Es sei kaum zu befürchten, daß sich der MST auf dem bisher Erreichten ausruhe und wegen einiger partieller Abkommen mit Regierungsbehörden seine grundsätzliche Kritik an der Politik der Regierung Cardoso abschwäche, versichert Gilmar Mauro. Er gehört zu den 21 Mitgliedern des MST-Führungsgremiums, die regelmäßig im Hauptsitz der Bewegung in Sâo Paulo zusammenkommen, die Regierungspolitik analysieren und die politische Strategie des MST definieren. “Solange in diesem Land 32 Millionen Menschen hungern und 65 Millionen als fehlernährt gelten, werden wir unseren Kampf um Agrarreform mit derselben Energie fortführen wie bisher.” Das schließe aber nicht aus, daß der MST auf dem Agrarsektor die verschiedensten Unternehmungen fördere und sich dabei auch staatlicher Subventionen und Mechanismen bediene, wenn das vorteilhaft sei. “Familiäre Kleinbetriebe, Produktionskooperativen und agroindustrielle Unternehmungen stehen bei uns gleichberechtigt nebeneinander”, beantwortet Mauro die schon häufig gestellte Frage nach der vom MST angestrebten Produktionsweise. “Wichtig ist uns nur, daß die Landwirtschaft erstmal Nahrung und Arbeit für unsere eigene Bevölkerung sichert, bevor in die Exportproduktion investiert wird, die nur wenigen Reichen zugute kommt.” Letztlich gehe es bei der Forderung nach Landreform um die Demokratisierung der Gesellschaft, fügt der MST-Stratege hinzu. Und das möglichst unter Berücksichtigung der Gleichheit von Männern und Frauen und umweltverträglichen Produktionsformen. Ob und wie der MST jenseits von herkömmlichem Agrobusiness und familiärer Subsistenzproduktion Alternativen entwickeln kann, die den formulierten Ansprüchen gerecht werden, bleibt auch bei genauerem Nachfragen vage. Vorerst gehe es erstmal um Land für die 4,8 Millionen landlosen Bauernfamilien, meint Mauro, und um die Mobilisierung der Bevölkerung für die Landreform.

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