Bolivien | Nummer 397/398 - Juli/August 2007

Keine Einigung in Sicht

Der Streit um die neue Verfassung geht weiter

Der Aushandlungsprozess um eine neue Staatsordnung für das
Andenland ist erneut ins Stocken geraten. Streitpunkte sind vor allem die territoriale Neuordnung des Landes als „plurinationaler Staat“, Änderungen in der Grundbesitzregelung und der Plan, zukünftig eine Wiederwahl des Präsidenten zu ermöglichen.

Aline-Sophia Hirseland

Stichtag war der 21. Juni. Bis dahin sollten die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung Boliviens ihre Abschlussberichte über die neuen Artikel vorlegen. Die VertreterInnen unterschiedlicher politischer Parteien, BürgerInnenvereinigungen und indigener Gruppen waren in den letzten Wochen durch alle Regionen des Landes gereist, um die Bevölkerung nach ihren Erwartungen zu befragen. Vergangene Woche hatten sich außerdem verschiedene soziale Gruppen in der Hauptstadt Sucre getroffen, um an den Kommissionssitzungen teilzunehmen und den Entscheidungsprozess noch kurz vor Abgabe der Berichte zu beeinflussen.
Bis auf eine einzige konnte am Stichtag jedoch keine der 21 Komissionen ein abstimmungsfähiges Ergebnis präsentieren. Zu groß sind die Unstimmigkeiten zwischen den 255 Mitgliedern der Verfassunggebenden Versammlung. Ein zentraler Streitpunkt ist die von Präsident Morales geplante territoriale Neuordnung Boliviens als „plurinationaler Staat“. Die Einteilung in Departamente, Provinzen und Gemeinden soll um indigene Regionen und Territorien erweitert werden. Innerhalb des Staates sollen nicht nur verschiedene Kulturen, sondern auch eigene Nationen miteinander leben, welche dann innerhalb dieser Gebiete sogar ihre traditionellen Justizsysteme ausüben dürften.
Ein weiteres Vorhaben besteht darin, Ungleichheiten in der Verteilung von Grundbesitz zu beseitigen, indem brachliegende, nur zu Spekulationszwecken erworbene
Flächen enteignet und unwirtschaftliche Miniparzellen durch gemeinschaftlich bewirtschaftetes kommunitäres Eigentum ersetzt werden. Dies entspräche dem traditionellen Bewirtschaftungssystem, welches in Bolivien vor der Ankunft der Spanier praktiziert wurde.

Der „Halbmond“ weiter mit Widerstand

Widerstand kommt vom Interessenverband „Halbmond“, der vor allem die Interessen der GroßgrundbesitzerInnen in den rohstoffreichen Departamenten Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando im Osten und Süden Boliviens vertritt. Die VertreterInnen der Regionalinteressen von Santa Cruz berufen sich auf einen Volksentscheid vom Juli letzten Jahres, bei dem die Cruceños für eine Autonomie der Departamente gestimmt hatten. Die Regierung spricht sich hingegen für die Beibehaltung der nationalen Einheit und der bisherigen administrativen Ordnung aus. Sie will das Land
zusätzlich in 42 Regionen und 36
autonome indigene Territorien einteilen, welche die gleichen Kompetenzen wie die Departamente hätten.
Die Demokratische Versammlung für Autonomie von Santa Cruz kündigte daraufhin an, dem „zivilen Widerstand“ mit Demonstrationen Ausdruck zu verleihen. Der Präsident des Komitees Pro Santa Cruz, Branko Marinkovic, kritisierte das Konzept des „plurinationalen Staates“, weil es den
indigenen Völkern Sonderrechte einräume. Der Chef der rechtskonservativen PODEMOS-Fraktion in der Verfassunggebenden Versammlung und Befürworter der Unabhängigkeit der vier Departamente, Carlos Dabdub, sprach von einer „Aymara-Kolonialisierung des nationalen Territoriums“. Er warf der Regierung vor, das Thema Landverteilung als Rechtfertigung für die Beschneidung von Privateigentum zu benutzen. Marinkovic kündigte an, dass es „Zeit sei, vom Ausnahmezustand zur Mobilisierung überzugehen, damit man nicht denkt, dass wir passiv auf die Ergebnisse warten“ und rief die Zivilkomitees im ganzen Land dazu auf, ihren Forderungen nach Autonomie Ausdruck zu verleihen. Auch das Militär solle, so die Forderung des „Halbmond“, seine „verfassungsgemäße Aufgabe erfüllen“ und die nationale Integrität verteidigen. Die Regierung bezeichnete dies wiederum als „Aufruf zum Staatsstreich“.
Der Präsident des Zivilkomitees von Tarija, Reinaldo Bayard, kündigte zudem einen Streik im Gemeinderat an. Die Regierung nannte die Erklärung eine „Provokation“ und warf den Autonomisten vor, das Versagen des Verfassungsprojektes herbeiführen zu wollen. Nachdem die Interessen der indigenen Völker in den letzten 500 Jahren missachtet worden seien, sei es nun an der Zeit, sie in den bolivianischen Staat einzubeziehen.
Angesichts der anhaltenden Uneinigkeit ufert das Verfassungsprojekt bereits über den ursprünglich vorgegebenen Zeitrahmen aus. Am 6. August soll der Entwurf der neuen Staatsordnung von der Verfassunggebenden Versammlung an die Exekutive weitergegeben werden. Ob dieser Stichtag eingehalten werden kann, ist unklar. Der Opposition, die seit Beginn der Regierungszeit von Präsident Morales und seiner Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) ihr Gewicht dazu nutzt, Entscheidungen zu blockieren, käme eine Verzögerung entgegen.
Ein weiterer Streitpunkt ist der Plan der Regierung, in der neuen Verfassung eine Wiederwahl des Präsidenten zu ermöglichen. Boliviens Opposition interpretiert diese Initiative als ein legales Instrument zur Machtverlängerung und spricht von einer Untermauerung der autoritären Führungsansprüche des Präsidenten. Oppositionelle Zeitungen beklagen außerdem eine Einschränkung der Pressefreiheit. Morales hatte – angeblich im Scherz – damit gedroht, die einem spanischen Verlag gehörende Zeitung “La Razón“ zu „nationalisieren“, weil sie Falschinformationen über ihn verbreitet habe.
In das Bild eines nach totaler Macht strebenden Präsidenten passt auch der Vorwurf, die Freiheit der Justiz einschränken zu wollen. Morales hatte den Justizapparat wegen stark verbreiteter Korruption kritisiert. Die Justizangestellten antworteten Anfang Juni mit einem 24-stündigen Streik. Sie warfen dem Präsidenten vor, das bolivianische Justizsystem zu schwächen und ein totalitäres Regime etablieren zu wollen.

Gegenwind von der Straße

Tatsächlich hat der Justizapparat in Bolivien bislang vor allem der Verteidigung oligarchischer Interessen gedient. So zieht sich beispielsweise der Prozess gegen Gonzalo Snchez de Lozada („Goni“) seit Monaten nur schleppend dahin. Der Ex-Präsident soll wegen des Todes von 63 Menschen während des „Gas-Krieges“ im Dezember 2003 zur Verantwortung gezogen werden. Die vier Richter, die Morales eingesetzt hatte, um das Verfahren zu beschleunigen, wurden vom Verfassungsgericht wieder ihres Amtes enthoben.
Gegenwind bekommt Evo Morales Regierung auch aus einer anderen Richtung: Fast kein Tag vergeht, ohne dass auf dem „Prado“, der belebtesten Straße im Zentrum von La Paz, Demonstranten entlangziehen, lautstark begleitet von kleinen Dynamitexplosionen. Es versammeln sich Behinderte und SchülerInnen, die Essensgutscheine fordern, StudentInnen, die gegen soziale Kontrolle und für die Autonomie der Universitäten protestieren, AltkleiderhändlerInnen, die sich dagegen wehren, dass der Verkauf gebrauchter Kleidung aus den westlichen Ländern bis 2008 zu Gunsten der heimischen Industrie auslaufen soll. LehrerInnen, FahrerInnen, BäuerInnen, ArbeiterInnen – mittlerweile protestieren sogar die KokabäuerInnen, die soziale Bewegung, aus deren Mitte Evo Morales einst an die Macht gelangte.
Angesichts der regionalen Uneinigkeiten wird sich in den nächsten Wochen zeigen, ob der Präsident und seine Regierungspartei MAS die bestehenden Herausforderungen meistern und mit Diplomatie eine Einigung herbeiführen können. Nur so könnten das Verfassungsprojekt fertig gestellt und die sozialen Reformen fortgesetzt werden. Spätestens für Juli sind die letzten Schliffe an der neuen Staatsordnung geplant – die Mobilisierungen dazu im Osten und Süden werden nicht fehlen.

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