Kinder ohne Eltern
Der argentinische Spielfilm Abrir puertas y ventanas erzählt vom Ende der Jugend und der Suche nach dem eigenen Weg
Es ist drückend schwül in Buenos Aires. Marina, Sofia und Violeta leben allein in der riesigen Villa ihrer gerade erst verstorbenen Großmutter, bei der die Schwestern aufgewachsen sind. Matt und ziellos versucht jede der drei jungen Frauen auf ihre Weise die Leere zu füllen, welche der Tod hinterlassen hat. Die älteste Schwester Marina widmet sich ihrem Studium und kümmert sich um den Haushalt. Sofia ist vor allem mit ihrem Aussehen und Parties beschäftigt. Und Violeta, die jüngste der drei, wandelt die meiste Zeit des Tages gelangweilt durch das Haus oder räkelt sich auf einem alten Sofa. Keine spricht über das, was alle in Wirklichkeit bewegt: Wie soll es weitergehen? Die Zeit des Übergangs und der Ungewissheit scheint schwerelos und ohne Ende. Bis zu dem Herbsttag, an dem Violeta ohne Vorankündigung verschwindet.
Der Spielfilm Abrir Puertas y Ventanas der jungen Regisseurin Milagros Mumenthaler erzählt in scheinbar zeitlosen Bildern von der Beziehung unter Geschwistern und dem Abschied von der Jugend. Dreh- und Angelpunkt ist dabei das weiße Haus in Buenos Aires, Sinnbild für die omnipräsente Großmutter. Ständig werden darin Fenster und Türen geöffnet, aber vor allem verschlossen – vor Blicken, vor Auseinandersetzungen, vor Gefühlen. Jede der drei Schwestern schafft schließlich auf ihre Weise den Umgang mit der Trauer und damit den Sprung in ein selbstbestimmtes Leben. Sie suchen ein neues Gleichgewicht in diesem stillen Haus, dessen Innenleben so stark von der Großmutter geprägt ist. Dabei weist ihre Abwesenheit eigentlich auf eine noch viel größere hin, jene der Eltern. Im Film spielen nur deren alte Sachen eine Rolle. Pappkartons, die in der Garage verstaut wurden. Verstaubte und längst vergessene Erinnerungen, in denen nur die mittlere Tochter Sofia versucht, eine Antwort zu finden. Sie ist die einzige, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, aber auch nur, weil sie den Verdacht hegt, dass ihre ältere Schwester Marina adoptiert sein müsse. Verschwundene Eltern und Adoption – zwei Themen, die im politischen Kontext Argentiniens zu sehen sind. Viele Kinder sind als Folge der Militärdiktatur von ihren Großeltern aufgezogen worden, weil ihre Eltern zu den 30.000 Verschwundenen dieser Zeit gehören. „Obwohl weder die Umstände noch das Alter der drei Schwestern in direktem Zusammenhang zur Militärdiktatur stehen, besteht eine unterschwellige Verknüpfung, weil die jüngere Geschichte im kollektiven Bewusstsein Argentiniens sehr präsent ist. Ich entschied mich aus diesem Grund, nicht näher auf das Schicksal der Eltern einzugehen. Ich will eine gewisse Unklarheit stehen lassen, einen Raum, den sich der Zuschauer selbst füllen kann“, erklärt Milagros Mumenthaler bei der Premiere des Films im Schweizerischen Locarno. Die 1977 in Argentinien geborene Regisseurin hat selbst zwei Schwestern. Ihr Debütfilm sei aus dem Bedürfnis entstanden, eine Geschichte mit einem Bezug zu ihrer eigenen Biografie zu erzählen: „Ich war drei Monate alt, als meine Eltern aus politischen Gründen nach Europa flüchten mussten. Wir hatten damals das Glück, fliehen zu können. Aber ich denke manchmal, es hätte auch anders kommen können und dann wäre unsere Situation heute jener der Figuren im Film sehr nahe.“ Aufgewachsen in der Schweiz, entschied sich Mumenthaler, nach ihrem Schulabschluss nach Argentinien zurückzukehren. Ein Land, das sie nur von Urlaubsbesuchen kannte. Sie studierte Film und lebte während dieser Zeit zunächst zwei Jahre bei ihrer Großmutter in Mar del Plata und dann in einer Wohngemeinschaft in Buenos Aires. „Viele Szenen im Film sind von dieser Zeit inspiriert“, erzählt sie. Abrir Puertas y Ventanas ist ihr erster langer Spielfilm und hatte beim Filmfestival in Locarno im August 2011 Premiere. Als einer der 20 Beiträge im prestigeträchtigen Wettbewerb um den goldenen Pardo konnte sich Mumenthaler gegen ihre Konkurrenz durchsetzen und gewann den mit 90.000 Franken dotierten Preis. „Ich konnte es zunächst gar nicht glauben, als man mich anrief“, sagt sie freudestrahlend. „Ich habe dann gleich zurückgerufen, um zu sehen, ob ich richtig verstanden hatte.“ Vor allem aber freue sie sich darüber, dass auch eine der Hauptdarstellerinnen, Maria Canale in der Rolle der ältesten Schwester Marina, die Auszeichnung als beste Schauspielerin erhalten hat: „Der Film lebt nicht von der Handlung, sondern vor allem von der realistischen Spielweise der Schauspielerinnen.“
Abrir puertas y ventanas // Spielfilm von Milagros Mumenthaler // Schweiz/Argentinien 2011 // 98 Min.