Medien | Nummer 465 - März 2013

Kingstons sprechende Wände

Graffitis und Murals als Gegenöffentlichkeit der jamaikanischen Metropole

Wer mit offenen Augen durch die jamaikanische Hauptstadt Kingston streift, sieht ein großes Spektrum an Streetart. Neben Graffitis und Tags drücken sich die Künstler_innen in Jamaika traditionell auch auf Wandgemälden aus, um ihre Botschaften in den öffentlichen Raum zu tragen.

Patrick Helber

Bei einem Spaziergang durch das Viertel Cassava Piece, im Norden von Kingston, entdeckt man die unterschiedlichsten Formen von Streetart. Neben unzähligen „Gully Side“-Tags, die Mauern und Hauswände säumen, gibt es ein Gemälde des berühmten Deejays Mavado, der hier zu Beginn seiner Karriere gelebt hat und auf den die Bewohner_innen der Community stolz sind. Ist es doch Mavado, mit bürgerlichem Namen David Brooks, dessen Texten die marginalisierte Gegend um den Abwasserkanal ihre globale Berühmtheit als „Gully Side“ zu verdanken hat. Der Dancehall-Deejay ist mittlerweile aus dem Ghetto gezogen und feiert große Erfolge. Sein Aufstieg zum erfolgreichen und geachteten Künstler aus ursprünglich armen Verhältnissen wird unterstrichen durch das Auto, das im Hintergrund des Gemäldes zu sehen ist.
Nicht nur in Cassava Piece, sondern in der gesamten Metropolregion Kingston werden die Wände von zahlreichen unterschiedlichen Akteur_innen zur Visualisierung und Kommunikation von gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Standpunkten verwendet. Botschaften im urbanen Raum werden in Kingston, wie in vielen anderen Städten der Welt, als illegal gesprayte Graffitis hinterlassen. Das spontan aus der Sprühdose geschossene Statement erzeugt, zwischen Verkehrsbeschilderung und Werbetafeln, Raum für Gegenöffentlichkeit. Neben den Graffitis gehören zu dieser in der jamaikanischen Tradition auch die Wandgemälde, die Murals. Letztere sind meist legal, mit dem Pinsel angefertigt und sowohl ein wichtiger Teil der bildenden Künste aus der Unterschicht als auch eine Quelle für Einkünfte. Nicht umsonst hinterlassen die Maler_innen aus den Innercities neben den Werken ihre Handynummern, um weitere Aufträge zu erhalten.
Murals wie Graffitis werden von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen verwendet, um Botschaften im städtischen Raum zu übermitteln. Beide urbane Kunstformen dienen der Kommunikation zwischen Gesellschaftsteilen, die in den gewöhnlichen Medien kaum Gehör finden. Sie bieten die Möglichkeit, künstlerisches Schaffen auch außerhalb von Museen und Galerien, frei von deren Auswahlkriterien und für alle zugänglich zu produzieren und zu präsentieren.
Die Graffitis in der jamaikanischen Hauptstadt kann man in drei thematische Bereiche einteilen: Erstens Graffitis, die von den Anhänger_innen der beiden rivalisierenden politischen Parteien Jamaikas, der Jamaican Labour Party (JLP) und der People‘s National Party (PNP) angefertigt wurden, um ihre jeweiligen Territorien zu markieren. Zweitens Graffitis, die sogenannte deviante Sexualpraktiken, wie Homosexualität oder Oralsex, mit Aussagen wie „Don’t bow!“ öffentlich kritisieren. Drittens Graffitis, die im Bezug zur Dancehall-Kultur stehen. Dazu gehören unter anderem die Schriftzüge „Gully Side“ oder „Gaza mi seh“, die Parteinahme für die Dancehall-Künstler Mavado (Gully) oder Vybz Kartel (Gaza) ausdrücken. Außerdem werden Sprühereien von weniger bekannten Künstler_innen, wie beispielsweise L. A. Lewis, verwendet, um mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen. Alle drei haben wenig subversives Potenzial. Antikoloniale Äußerungen wie der Schriftzug „Nanny a fi wi Queen“, der 1994 beim Besuch der britischen Königin in der Nähe der University of the West Indies auftauchte und die anti-britische Anführerin der Maroons zur wahren jamaikanischen Königin erklärte, sind eher eine Seltenheit.
Viel mehr subversives Potential besitzen die vielen bunten Wandgemälde. In den ärmeren Stadtteilen sind sie ein wichtiger Teil der öffentlichen Gedenkkultur von unten. Häufig sieht man Murals, auf denen junge Menschen abgebildet sind, die ihr Leben gewaltsam oder durch Unfälle verloren haben. Murals bewahren die Erinnerung an verstorbene Familienangehörige und Menschen aus der Community. Im Gegensatz zu einem Grabstein auf dem Friedhof, platzieren sie die abgebildeten Personen nicht nur im kollektiven Gedächtnis, sondern auch im örtlichen Zentrum der urbanen Gemeinschaft. Im Stadtviertel Tivoli Gardens an der Spanish Town Road ist ein junger Mann auf blauem Hintergrund und umgeben von weißen Tauben gemalt. Den Betrachter_innen winkt er aus einer Art Fenster im Himmel zu. Er trägt Kleidung der US-amerikanischen Marke Von Dutch, die als Statussymbol gilt. Unter dem Porträt sind der Name und die Geburts- und Sterbedaten des Mannes angebracht.
Diese öffentliche Gedenkkultur in den Innercities hilft dabei, dass die zahlreichen Toten aus der jamaikanischen Unterschicht ein Gesicht bekommen. Opfer von Bandenkriegen oder Militäreinsätzen in den Ghettos, wie bei der gewaltsamen Erstürmung von Tivoli Gardens im Mai 2010, werden von der jamaikanischen Elite und den Politiker_innen lediglich als anonyme Zahlen wahrgenommen. Die Verewigung von Toten aus Bandenkonflikten und Polizeigewalt ist eine Möglichkeit, Menschen aus den Ghettos post mortem Respekt und Würde zurückzugeben. Neuerdings wendet sich allerdings die Polizei gegen diese Form der Erinnerungskultur. So wird im Jamaica Observer 2013 über Polizist_innen berichtet, die gezielt Wandgemälde von Dons und Bandenmitgliedern überstreichen. Die Ordnungshüter_innen befürchten, die Getöteten könnten zu Märtyrer_innen und Vorbildern für Jugendliche werden. Solche Maßnahmen gleichen allerdings der Verhaftung von Strohpuppen, da durch die Beseitigung einer Kunstform nicht die Wurzeln von Armut und Perspektivlosigkeit angegangen werden, die Jugendliche aus den Ghettos in die Kriminalität treiben.
Auch Porträts von Reggae- und Dancehall-Künstler_innen sind eine Form des Widerstands gegen die jamaikanischen Eliten. An die Wand gemalte Monumente erfolgreicher Stars, wie im Falle von Deejay Mavado, zeigen den Respekt, den die Künstler_innen in ihrer Community genießen. Für viele Jugendliche sind sie Vorbilder für einen Weg aus der Armut. Eine derartige Anerkennung erhalten viele Entertainer_innen von staatlicher Seite nicht. Besonders die Dancehall-Musik hat trotz ihrer internationalen Popularität in Jamaika ein schlechtes Image. Für konservative Jamaikaner_innen verkörpert das Genre aus der urbanen Unterschicht lediglich Gewaltverherrlichung und Sittenverfall. Oft wird Dancehall jeder künstlerische oder kulturelle Wert abgesprochen. Stattdessen dient sie als Sündenbock für gesellschaftliche Missstände, die stets in der Unterschicht verortet werden.
Die Symboliken der religiösen Black-Power-Bewegung Rastafari sind ein weiterer Aspekt jamaikanischer Kultur, der sich auf den Wänden niederschlägt. Die Rastas waren lange Zeit vom 1962 gegründeten jamaikanischen Staat ausgegrenzt. Ihr Glaube an den früheren äthiopischen Kaiser Haile Selassie, die Weigerung ihr Haar zu schneiden und der rituelle Genuss von Marihuana führten zu harten staatlichen Repressionen. Rastafari artikuliert bis heute eine panafrikanische, antikoloniale und antirassistische Position in der jamaikanischen Gesellschaft. Ihr Antirassismus drückt sich in der Ablehnung eurozentrischer Formen der Geschichtsschreibung, Religion und Bildung aus. Rastas widersprechen außerdem dem jamaikanischen Nationalmotto „Out of many, one people“ radikal. Sie machen auf die fortdauernden Ungleichheiten in der Gesellschaft und die mental slavery aufmerksam, der die Nachfahr_innen der afrikanischen Sklav_innen ihrer Auffassung nach unterworfen sind. Die schwarze, panafrikanische Perspektive der Rastas wird visualisiert durch Murals mit Porträts Haile Selassies, dessen Ehefrau Menen Asfa sowie Marcus Garveys. Garvey hat sowohl als jamaikanischer Nationalheld als auch als Prophet der Rastafari eine wichtige Bedeutung. Die Porträts dieser Ikonen sind meistens in rot, gelb und grün, den Farben der äthiopischen Flagge, umrahmt. Am Monica Bernard Building, einem Buchladen und Versammlungsort in der der East Street in Kingston, wird die panafrikanische Komponente von Rastafari besonders gut sichtbar: Neben den Bildern der genannten Persönlichkeiten sind auf die Wände des Gebäudes in der Downtown die Porträts bedeutender schwarzer Aktivist_innen wie Steve Biko, Malcom X und des früheren ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah gemalt.
Doch nicht alle Murals können als subversive Statements der Marginalisierten gegen die jamaikanische Elite und das rigide Gesellschaftssystem gelesen werden. In vielen Communities gibt es Gemälde, die konservative Tugenden für ein friedliches Gemeinschaftsgefühl zwischen den Bewohner_innen propagieren oder nationalistische Symboliken wie die jamaikanischen Nationalhelden darstellen. Im Zentrum stehen staatsbürgerliche Erziehung, respektables Verhalten, Fleiß und Bildung. Sie werden oft von örtlichen Politiker_innen finanziert. Slogans auf den Gemälden sind „Love, God & Live“, „Create a Vision for a better Jamaica“, „Provide Values, Create Wealth“ oder „Discipline”. Umrahmt werden diese von Landschaftsbildern, Blumen oder den Nationalfarben. Rastafaris, Dancehall-Künstler_innen und Bewohner_innen der Innercities als Verkörperungen schwarzer urbaner Kultur haben keinen Platz in diesen Visualisierungen. Sie weichen ab von traditionellen Vorstellungen respektabler Erscheinung und Verhaltens und sind wegen ihrer Opposition gegen den „Out of Many, one people“-Staat ausgeschlossen.

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