Literatur | Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016

KRITISCH, KOMISCH, KAFKAESK

DIE ERSTE SAMMLUNG AUGUSTO MONTERROSOS IN NEUER ÜBERSETZUNG

„Damit, dass dieser Brief Sie überrascht, muss ich rechnen.“ Mit diesem Satz beginnt die Erzählung „Jeder Dritte“, eine der dreizehn Kurzgeschichten aus Gesammelte Werke (und andere Geschichten) Augusto Monterrosos. Und Gleiches ließe sich wohl über die gesamte Sammlung sagen: Mit Überraschungen dürfen die Leser*innen rechnen, denn ganz gewöhnlich sind Monterrosos Kurzgeschichten nicht.

Von Lisa Spöri

Die Sammlung aus dem Jahre 1959 war das erste Buch, das der guatemaltekische Schriftsteller veröffentlichte. Mit ihm erlangte er erste Anerkennung über die Grenzen des Kontinents hinweg. Die deutsche Übersetzung von 1973 ist seit Langem vergriffen. Umso erfreulicher ist es, dass der Insel Verlag dieses Jahr eine neue Übersetzung herausgebracht hat.
Bereits der Titel mag darauf hindeuten, dass es sich um Erzählungen handelt, wie man sie nicht häufig liest. Anders als gewöhnliche Geschichten ist die Prosa Monterrosos nicht nur inhaltlich, sondern auch was die Form betrifft: zum Beispiel die berühmte Micro-Erzählung Der Dinosaurier, die lediglich aus einem einzelnen Satz besteht. Insbesondere ihr ist Monterrosos erster internationaler Durchbruch zu verdanken, galt sie doch lange als kürzeste Geschichte der Weltliteratur. Gerade diese Prägnanz ist charakteristisch für ihn.
Monterroso gelingt es, in seinen sogenannten Mikroerzählungen (Microrelatos) sicher und ohne Umschweife den Witz auf den Punkt zu bringen und selbst komplexe Zusammenhänge und Kritik zu illustrieren. So ist beispielsweise die lediglich aus zwei Sätzen bestehende Erzählung Die Kuh ein kurzer liebevoller Nachruf auf eine tote Kuh, die der Protagonist im Vorbeifahren aus dem Zugfenster heraus am Wegesrand erblickt, und gleichzeitig eine Kritik an der Ignoranz des modernen Menschen gegenüber seiner Umwelt.
Doch auch in Monterrosos längeren Erzählungen gehen Schneid und Witz nicht verloren. Der Insel Verlag nennt Monterroso einen Seelenverwandten Kafkas und in der Tat erinnert so manches an die ein oder andere kafkaeske Sequenz. Wenn sich beispielsweise metamorphosenartig die Erzählperspektive ändert und es plötzlich nicht mehr der Sohn ist, der mit Kinderaugen und­ -verstand vom tragischen Familiendrama erzählt, sondern der cholerisch gewalttätige Vater, der sich schließlich in die hilflose Mutter verwandelt (in Diogenes ebenfalls).
Auch die makabere Brutalität in seinen Erzählungen lässt hin und wieder Parallelen zu Kafka ziehen. Da wäre zum Beispiel die Erzählung über Mister Taylor, der als bankrotter Nordamerikaner eines Tages im Amazonas auftaucht und bald ein blühendes Geschäft mit Schrumpfköpfen aufzieht. Als ein Versorgungsengpass entsteht, wird kurzerhand beschlossen, die Zahl der „gängigen Todesfälle“ müsse steigen, das heißt mehr Köpfe rollen. Nachdem man einen Stamm nach dem anderen enthauptet, geht es schließlich auch dem Bürgertum an den Kragen, bis schließlich der Kopf von Mister Taylor selbst in einem Pappkarton zurück nach Boston geschickt wird.
Sarkastisch parodiert Monterroso den menschlichen Irrsinn im Allgemeinen, sowie herrschende Hierarchien im Besonderen. Monterroso, der ab 1944 im mexikanischen Exil lebte, veröffentlichte mit dieser ersten Sammlung zwar keine politische Prosa, aber eine subtile und zugleich scharfe Gesellschaftskritik. Und blickt man genauer hin, hat diese auch ein halbes Jahrhundert später an Aktualität eigentlich nicht verloren. Der groteske Humor von Monterroso liest sich jedenfalls noch heute amüsant und erfrischend. Illustriert wurde die Insel Ausgabe von Nicolas Mahler, der mit seinen dezenten Zeichnungen den Ton der skurrilen Prosa trifft.


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