Nicaragua | Nummer 587 - Mai 2023

La Madre de todas las marchas

Das Muttertagsmassaker in Nicaragua jährt sich zum fünften Mal

Vor fünf Jahren, am 30. Mai 2018, endete eine massive Demonstration gegen das Ortega-Murillo-Regime in einem Massaker. Seitdem kämpfen Mütter von getöteten Protestierenden für Wahrheit und Gerechtigkeit. Denn auch fünf Jahre nach dem Massaker hat noch immer keine Aufarbeitung stattgefunden.

Von A. B.

Die Vereinigung Madres de Abril Protest am ersten Jahrestag des Muttertagsmassakers (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr , CC BY 2.0)

In LN 587 (Mai 2023) haben wir einen Beitrag („La Madre de todas las marchas“) abgedruckt, mit dessen Aussagen wir zum Teil nicht übereinstimmen. Insbesondere trifft das auf den ersten Satz des Artikels zu, der weder historisch korrekt ist noch in unsere kritisch-solidarische Berichterstattung zu Nicaragua passt. Den Fehler haben wir uns zu großen Teilen selbst zuzuschreiben. Aufgrund von mangelnder Zeit und ungründlicher Prüfung durch die LN-Redaktion im Vorhinein haben wir nicht die nötige journalistische Sorgfalt walten lassen. Dafür möchten wir uns bei unseren Leser*innen entschuldigen. In Absprache mit de*r Autor*in bringen wir den Beitrag online ohne besagten ersten Satz.

Daniel Ortega, der Präsident Nicaraguas, regierte seit der Sandinistischen Revolution 1979 und ist nach einer Unterbrechung seit 2006 wieder durchgehend im Amt. Die Unterstützung seiner Regierung durch das Volk verlor er jedoch spätestens am 19. April 2018, als man begann, Widerstand gegen die Reform des Sozialversicherungssystem (INSS) zu leisten. Die Proteste gingen mit Machtmissbrauch und Gewalt einher, nicht nur direkt von Ortega aus, sondern auch durch die Hand der Polizei und durch Regierungsunterstützer*innen, die die Bevölkerung zum Schweigen bringen und die Proteste unterdrücken wollten. Von da an wehrte sich die Bevölkerung, insbesondere viele Studierende, in Form von Protesten, Demonstrationen und Barrikaden gegen die Regierung. Seit Beginn der Proteste 2018 durchläuft Nicaragua eine sozialpolitische Krise, die viele Tote und viele Mütter ohne Kinder hinterließ. Der Muttertag spielt für die Bevölkerung dabei eine besondere und historisch tragische Rolle.

Die Vereinigung Madres de Abril Protest am ersten Jahrestag des Muttertagsmassakers (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr , CC BY 2.0)

In Nicaragua wird der Muttertag, anders als in anderen Ländern, am 30. Mai gefeiert. Das Datum wurde 1940 von dem damaligen Diktator Anastasio Somoza Garcia festgelegt, der den Muttertag auf den Geburtstag seiner Mutter legte. Am 10. Mai 2022 erklärte das Ortega-Murillo-Regime den Muttertag zum gesetzlichen Feiertag, 20 Tage vor seiner Begehung. Jedoch gibt es seit 2018 keinen Grund mehr zum Feiern. Stattdessen ist der Muttertag zum Tag der Trauer und des Gedenkens geworden. Am 30. Mai 2018 fand ein Massenaufstand der Opposition statt, der unter dem Namen „La madre de todas las marchas“ (dt: Die Mutter aller Protestzüge) bekannt wurde und sich zu einem Blutbad entwickelte. Es versammelten sich zwischen 500.000 und einer Million Demonstrierende in den Städten Estelí, Chinandega, Masaya und der Hauptstadt Managua. Die Demonstration wurde bewusst am Muttertag begangen, da zentrales Element die Forderung nach Gerechtigkeit der ungefähr 83 Mütter war, die ihre Kinder während der vorangegangenen Aufstände durch die Hände der Ortega-Murillo-Diktatur verloren hatten. Sie wollten an diesem Tag nicht feiern, sie gingen stattdessen auf die Straße, um Veränderung und Aufarbeitung zu fordern.

Mörtel und Steine als Verteidigung gegen Schüsse auf Demonstrierende

Doch auch diese Demonstration endete gewaltvoll: 15 Nicaraguaner*innen wurden getötet, weitere 199 Personen wurden schwer verletzt. Die nationale Polizei und Paramilitärs verwendeten die Scharfschützengewehre Dragunov (SVD) und AK 47/52 gegen die protestierende Bevölkerung. Der Protest wurde zu einem Massaker. Die Geschehnisse wurden live in den sozialen Medien übertragen, wodurch nachvollziehbar wurde, wie die Menschen sich mit Mörtel und Steinen gegen die Schüsse und Kugeln verteidigen mussten. Laut Aussagen von Demonstrant*innen und verschiedenen Aufnahmen im Internet griffen die Schocktruppen den Demonstrationszug in mehreren Schüben an und zielten bewusst auf Köpfe und Brust der Teilnehmer*innen, sodass einige der Opfer sofort starben, während andere es noch bis ins Krankenhaus schafften, dort jedoch ihren Verletzungen erlagen.

Während der Präsident leere Worte verkündete, versammelten sich die Demonstrant*innen mit Plakaten mit Botschaften wie „Wir sind lebende Tote, weil sie unsere Kinder töten“, „Lass doch deine Mutter kapitulieren, denn wir tun es nicht“, „Da die Regierung es nicht schafft, ihre Ideen in unsere Köpfe zu setzen, setzt sie gegen uns Kugeln ein“ oder „Weder Resignation noch Vergeben noch Vergessen, Gerechtigkeit für die Mütter!“. An diesem 30. Mai sind es fünf Jahre seit dem Massaker, das nach wie vor straflos und unaufgearbeitet bleibt. Die Nicaraguaner*innen werden weder vergessen noch vergeben. In vielen Herzen besteht weiterhin die Hoffnung, dass die Ortega-Murillo-Diktatur für ihre Taten bestraft wird. Auch an diesem Muttertag wünschen wir uns keine Geschenke, sondern ein freies Nicaragua.

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