Gewerkschaften | Nummer 318 - Dezember 2000

Lateinamerika, eine gefährliche Zone

In Lateinamerika wird der Verhandlungstisch mehr als einmal zugunsten der Todesschwadronen abgegeben

Jährlich erstellt der Internationale Bund freier Gewerkschaften (IBGF) einen Bericht über die Situation der Gewerkschaftsrechte. Der Autor fasst im folgenden Artikel das Kapitel zu Lateinamerika zusammen.

Luc Demaret

Paraupebas, nördliches Brasilien, 20. Mai 1999: Zwei bewaffnete Männer fahren mit einem Motorrad hinter Euclides Francisco De Paula her. Schüsse fallen, und Euclides fällt niedergestreckt zu Boden. Euclides war der Präsident der Paraupebas-Landarbeitergewerkschaft. Im Zusammenhang mit seiner Kampagne für eine Agrarreform hatte er bereits eine ganze Reihe von Todesdrohungen erhalten. Bis heute konnten seine Mörder nicht identifiziert werden.
Ciénaga, Nord-Kolumbien, 13. Dezember 1999: César Herrera Torreglosa, ein führendes Mitglied der Landarbeitergewerkschaft Sintrainagro wird von zwei Männern erschossen, die anschließend mit einem Motorrad unerkannt entkommen. Unmittelbar zuvor hatte César Herrera die Polizei von Briefen mit Todesdrohungen, die er erhalten hatte, unterrichtet. Das nützte ihm jedoch nichts. Seine Attentäter sind noch in Freiheit.
Santa Lucia, Guatemala, 17. Juni 1999: Baldomero De Jesús Ramírez, Generalsekretär der Landarbeitergewerkschaft wird von unbekannten Personen gekidnappt. Er hatte an einer legalen Aktion in einer Tarifauseinandersetzung teilgenommen, in die auch der Bürgermeister verwickelt war. Am 22. Juni wurde sein Leichnam gefunden. Baldomero hatte ebenfalls Todesdrohungen erhalten. Natürlich erbrachten die polizeilichen Untersuchungen bis heute keinerlei Ergebnisse…

Gewalt als Normalität

Die Lektüre des Lateinamerika-Kapitels der Jährlichen Übersicht über die Verletzung von Gewerkschaftsrechten des Internationalen Bundes freier Gewerkschaften (IBFG) ist eine entmutigende Erfahrung. Gewalt kennzeichnet in hohem Maße die meisten der 23 beobachteten Staaten. Mit 90 Hinrichtungen hält Lateinamerika den grausamen Weltrekord an der Tötung von Gewerkschaftsmitgliedern in deren Kampf für Gerechtigkeit. Mehr als zwei Drittel aller weltweit inhaftierten GewerkschaftsaktivistInnen befinden sich in Lateinamerika. Aber der vielleicht beunruhigendste Aspekt des Gewerkschaftsreports ist der Kontrast zwischen der extremen Hilflosigkeit der Regierungen, wenn es um Drogenhändler, Auftragskiller und paramilitärische Gruppen auf der einen Seite, und der massiven Entschlossenheit der selben Regierungen bei der Unterdrückung von Gewerkschaftsaktivitäten auf der anderen Seite geht. Um einige Beispiele zu nennen: Am zweiten Tag eines Fernfahrerstreiks in Argentinien im Juli 1999 gab die damalige Regierung bekannt, dass sie die Armee zur Sicherstellung der Versorgung einsetzen werde. Die Polizei wurde in Alarmbereitschaft versetzt, um mögliche Straßenblockaden zu verhindern. Einige Regierungsmitglieder forderten die Ausrufung des nationalen Notstandes. In Brasilien verhaftete die Aufstandspolizei 500 DemonstrantInnen, die höhere Löhne im öffentlichen Dienst forderten. Die Niederschlagung dieser Demonstration war außerordentlich brutal: Blendgranaten und Tränengas wurden eingesetzt, das Ergebnis: Ein toter Demonstrant.

Kriminalisierung des sozialen Kampfes

In Kolumbien ist der Kontrast zwischen der Straflosigkeit, die von Kriminellen genossen wird, und der harten Repression gegenüber Gewerkschaftsarbeit am schockierendsten. Der Gewerkschaftsreport weist aus, dass Kolumbien für GewerkschaftsaktivistInnen das mit Abstand gefährlichste Land der Welt ist. Allein 1999 starben oder „verschwanden“ 76 von ihnen. Dabei ist Straflosigkeit für die Mörder in Kolumbien eher die Regel denn die Ausnahme. Wenn es aber darum geht, GewerkschaftsaktivistInnen anzuklagen, erweisen sich die Regierungsbehörden als außerordentlich umsichtig. Streiks werden als „terroristische Akte“ bezeichnet, Streikende werden verhaftet. Diese „Kriminalisierung des sozialen Kampfes“, wie es der IBFG bezeichnet, bedient sich dabei der Gesetze, die für die Terrorismusbekämpfung oder den Drogenhandel erlassen wurden. Manche dieser Gesetze erlauben es Richtern, anonym zu bleiben. Zeugen können ihre Aussagen maskiert machen.
Während die Strafgesetze eine ganze Reihe von Bestimmungen enthalten, um GewerkschaftsaktivistInnen zu kriminalisieren, begrenzt die Arbeitsgerichtsbarkeit Gewerkschaftsaktivitäten auf ein solch geringes Maß, dass sie kaum dabei nützen, die Interessen der Arbeitenden schützen. Eine von der kolumbianischen Regierung bekannt gemachte Gesetzesvorlage soll die Situation verbessern, existiert aber bislang nur auf dem Papier.
Kolumbien ist nicht das einzige Land mit einer rückständigen Arbeitsgesetzgebung. In vielen Ländern Lateinamerikas stellen die Arbeits- und Sozialgesetze die letzten Überbleibsel aus den vorangegangenen Diktaturen dar. In Brasilien sind sie weitgehend an Mussolinis „Carta del Lavoro“ angelehnt, die ganz offensichtlich die Inspirationsquelle der Generäle war. In Haiti geht die aktuelle Arbeitsgesetzgebung auf die Epoche der Duvaliers zurück. Ein aktueller Versuch, die in Chile von Augusto Pinochet erlassenen Arbeitsgesetze zu modifizieren, scheiterte im Senat. Überhaupt ergibt eine Gesamtbetrachtung der Politik staatlicher Autoritäten in den meisten Fällen, dass der Schutz von ArbeiterInnenrechten im Namen der heiligen „Flexibilität“ auf ein Minimum reduziert wird. Der IBFG-Report enthüllt zahllose Lücken und Hindernisse in den Gesetzen, die eigentlich dem Schutz der ArbeiterInnen dienen sollen: So ist in Bolivien lediglich eine Gewerkschaft pro Firma erlaubt, in Brasilen existiert eine „Gewerkschaftssteuer“, in Kolumbien ist es den Gewerkschaften verboten, einen Streik auszurufen, in Costa Rica ist es erforderlich, zugleich Staatsbürger zu sein, um in der Öffentlichkeit Gewerkschaftspositionen zu vertreten und so weiter und so fort.
Das sind die Hauptkritikpunkte an den Restriktionen gegen Gewerkschaftsaktivitäten, die in den meisten Arbeitsgesetzen gefunden wurden, die der IBFG überprüfte. Der Bericht enthüllt aber auch die erbärmlichen und gefährlichen Bedingungen, denen LandarbeiterInnen in Costa Rica und Guatemala ausgesetzt sind (siehe Kasten). In den Bananenplantagen Costa Ricas werden LandarbeiterInnen, die eine Gewerkschaft gründen wollen, gewöhnlich entlassen und ihre Namen werden auf einer schwarzen Liste der Landbesitzer erfasst.
Die Arbeitsbedingungen in den freien Exportzonen Zentralamerikas, wo Arbeitsgesetze oft ignoriert werden, sind kaum besser. Zusätzlich zur Repression gegen jede(n), der versucht, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren, berichtet der IGBF-Report von Schwangerschaftstests an neu eingestellten Arbeiterinnen in Salvadors maquiladoras. Dort werden Frauen sofort entlassen, wenn sie schwanger werden oder das Alter von 30 Jahren erreichen. Ähnlich sieht es auch in den sweatshops in Mexiko aus, wo eine Reihe von multinationalen Firmen – wie zum Beispiel Samsung, Sanyo und Siemens – diese Praktiken ausüben.

gekürzt aus: Trade Union World Nr. 9 / September 2000

Der Bericht des IBFG, Jährliche Übersicht über die Verletzungen von Gewerkschaftsrechten 2000, Brüssel ist zu beziehen über:
Tel.: 0032-2-224.02.11 / E-mail: internetpo@icftu.org oder auf der website:www.icftu.org nachzulesen.

KASTEN

In den Bananenplantagen Guatemalas

Am 13. Oktober 1999 stürmten zweihundert bewaffnete Männer in das Büro der Sitrabi-Gewerkschaft in Motugua. Es war der Vorabend einer von den BananenarbeiterInnen der lokalen Filiale des US-amerikanischen Konzerns Del Monte geplanten Demonstration. Die ArbeiterInnen wollten einen zehntägigen unbezahlten Urlaub einfordern, auf den sie nach dem Tarifvertrag Anspruch hatten. Im Gewerkschaftsbüro standen 35 Gewerkschaftsaktivisten, die diese Demonstration vorbereiten wollten, Gewehre waren auf sie gerichtet. Der Anführer der bewaffneten Bande drohte, sie alle umzubringen, wenn sie nicht dazu bereit seien, die geplante Demonstration über das lokale Radio abzusagen. Als die Gewerkschafter mit ihrer bewaffneten Eskorte von der Radiostation zurückgekehrt waren, war ein Anwalt damit beschäftigt, ihre Kündigungsschreiben aufzusetzen, wobei sie demnach sowohl das Unternehmen als auch die Gewerkschaft verlassen sollten. Sie mussten vor laufender Filmkamera erklären, ihre Kündigungen seien echt. Diese Ereignisse fanden nur ein paar hundert Meter von der lokalen Polizeistation statt. Von dort aus wurde kein einziger Versuch unternommen, diesen Angriff zu unterbinden.

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