Literatur | Nummer 375/376 - Sept./Okt. 2005

Leben und sterben in Kolumbien

Literarische Neuigkeiten aus dem Land der violencia

Kaum irgendwo auf der Welt ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gewalttat zu werden so hoch wie in Kolumbien. Die Literatur dieses Landes hat sich entsprechend intensiv mit dem Phänomen „Gewalt“ beschäftigt – seit jeher. Das Bild, das die in den letzten Monaten übersetzten kolumbianischen Romane abgeben, ist wider Erwarten erstaunlich vielfältig.

Valentin Schönherr

Eigentümlicherweise beginnt jeder Artikel über kolumbianische Literatur mit einem Verweis auf die gewaltsame Realität dieses Landes. Das hat seinen Grund. Nicht nur unser von Medien gelenkter Tunnelblick ist ganz auf die vielfältigen Formen der violencia – Entführungen, Drogenkriminalität, Bürgerkrieg, Straßenkiller, Korruption, Flüchtlingselend – gerichtet und übersieht alles andere. Auch die Literatur selbst scheint sich mit diesen Dingen bevorzugt zu beschäftigen.
Der erste Satz des kolumbianischen Klassikers Der Strudel (1924) von José Eustasio Rivera gab die Linie vor: „Bevor noch irgendeine Frau meine Leidenschaft gefesselt hatte, setzte ich aufs Geratewohl mein Herz und verspielte es an die Gewalt.“ Gabriel García Márquez ließ sich in Hundert Jahre Einsamkeit nicht lumpen und jagte das Dorf Macondo durch mehrere Bürgerkriege und ein Massaker, bevor es schließlich apokalyptisch von der Erde vertilgt wurde. Und ein Kolumbien-Dossier in Babelia, der Literaturbeilage der spanischen Zeitung El País, verstärkte 2003 diesen Eindruck. Héctor Abad Faciolince schrieb dort beispielsweise: „Die Realität ist unvermeidbar, auch wenn man ihr ausweicht. Die Gewalt, von der man in den Büchern liest, ist selbstverständlich eine Tochter der uns umgebenden Gewalt.“ Nur – ist diese Gewalt denn tatsächlich das Element, das „die Realität“ allein bestimmt?
Binnen eines Jahres sind sechs neue kolumbianische Romane ins Deutsche übersetzt worden – ohne Buchmessenschwerpunkt oder andere Literaturbetriebsmotoren eine ganz erstaunliche Anzahl und eine günstige Gelegenheit, gewohnte Bilder zu überprüfen. Zumal drei Autoren darunter sind, die dem deutschsprachigen Publikum zum ersten Mal vorgestellt werden. Die sechs Romane ergeben zufälligerweise drei Paare, die jeweils in ihrer thematischen Anlage Gemeinsamkeiten aufweisen.

Gewalt und Grausamkeit

Das Blut der anderen von Arturo Alape und Der Abgrund von Fernando Vallejo spielen in der kolumbianischen Gegenwart und befassen sich eingehend mit der überbordenden Gewalt im Lande. In Alapes Text hört ein Autor in langen Sitzungen einem jugendlichen Ex-Auftragskiller zu und notiert, ganz wie ein Zeuge, seine Lebensgeschichte. Der Junge ist mit gerade neun Jahren in die Fänge einer regelrechten Mörder-Schule hineingeraten und gelangt, nachdem er eine Menge Blut der anderen vergossen hat, wieder aus ihr heraus. Am Ende lebt er rechtschaffen vom Müllsammeln und mit einem Berg an belastenden Erinnerungen. Der Blick ins Innere eines solchen Lebens ist durchaus aufregend. Der enorme Erfolg, den dieses Buch in Kolumbien erlebte, verwundert dennoch. Inhaltlich wird das reproduziert, was dem dortigen Publikum durch Reportagen längst bekannt sein dürfte – und was den Stil betrifft, hat Alape den Redefluss seiner Figur so autoritär umgestaltet, dass diese nicht mehr glaubhaft wirkt. Den sprachlich schwachen Eindruck verstärkt die auf Kraftausdrücke bauende Übersetzung.
Der verfeinerte Stil hingegen ist ganz das Element Fernando Vallejos: ein Hochgenuss, allerdings nur im Konjunktiv. Wie schon in Die Madonna der Mörder (2001) erweist sich der grammatische Ästhet Vallejo als Schöpfer rücksichtsloser Hassgesänge, die vor nichts Halt machen. Ein verbitterter Mann pflegt seinen aidskranken Bruder-Freund bis zum Tod und verdammt dabei seine Mutter, den Papst, Kolumbien, die Zeitung, Schwangere, Arme. Sie alle hätten das reine Land seiner Kindheit zerstört und mit ihrer Dummheit und Schlechtigkeit in den Abgrund geführt. Das ist nicht gerade scharf analysiert, sondern eher der Auswurf einer gekränkten Seele, einer Seele, die jedoch zuzuschlagen bereit ist: „Der Tick mit den Schwangeren war meiner, hätte aber ebenso gut seiner sein können, denn wenn ich eine sah und sagte: ,Gib Gas, Darío, sieh zu, dass du sie kriegst’, gab er Gas und sah zu, dass er sie kriegte.“ Vallejo bekennt sich in Interviews gern dazu, dass er das, was er seinen Ich-Erzählern in den Mund legt, persönlich so meint. Das scheint der Literaturbetrieb nicht recht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Der Abgrund wurde mit einem hohen lateinamerikanischen Preis ausgezeichnet, und für die deutschsprachige Literaturkritik und den Verlag scheint Kolumbien ausreichend weit weg zu sein, dass man sich wegen menschenverachtender Passagen keine Gedanken zu machen braucht, solange sie denn geschliffen formuliert sind. Trotz ganz unterschiedlicher Haltungen stimmen Vallejo und Alape in ihrer Intention doch überein. Sie versuchen, die Verhältnisse zu überwältigen, indem sie sie sprachlich an Grausamkeit noch übertrumpfen. Sie ästhetisieren sie, statt sie zu denunzieren, und setzen sie damit fort, statt sie zu unterbrechen.

Flucht und Fernweh

Zwei weitere Autoren gehen ganz andere Wege: sie suchen das Heil in der Ferne, Santiago Gamboa mit Die Blender im exotischen Peking, Jorge Franco mit Paraíso Travel im gelobten New York. Beide Autoren haben sich in früheren Büchern (Gamboa 1997 mit Verlieren ist eine Frage der Methode, Franco 1999 mit Die Scherenfrau) drastisch durch die Gewaltkriminalität kolumbianischer Großstädte gearbeitet und bemerkenswerte Verkaufserfolge erzielt. Der Blick auf die Bestsellerlisten scheint auch ihre neuen Bücher beeinflusst zu haben. Mit klaren Charakteren und einer mit Händen zu greifenden „Moral von der Geschicht“ (Löse dich von deinen Illusionen! Such dich nicht in der Ferne!) folgen sie konsequent den Regeln guter Verkäuflichkeit; und der kurzschnittige Spannungsaufbau, der schließlich genau aufgeht, tut ein Übriges dazu. Ob man nun Gamboas reichlich konstruierter Jagd nach einem begehrten chinesischen Manuskript folgt oder Francos gut ausgeleuchteter Odyssee eines Jugendlichen, der mit seiner Geliebten illegal in die Vereinigten Staaten reist und sie dort verliert – unterhalten wird man ganz gut. Beide Autoren stehen für einen ausgesprochen vitalen kolumbianischen Buchmarkt, der offenbar gar nicht so sehr darauf setzt, die Kugeln durch die Gassen pfeifen zu lassen. Vielmehr löst sich Santiago Gamboa vom kolumbianischen Kontext und übt Normalität beim freien Spiel mit historischen Verwicklungen und literarischen Querverweisen. Und Jorge Franco wertet Kolumbien dadurch auf, dass er die Träumereien von einem besseren Leben anderswo scheitern lässt. Die titelgebende Paraíso Travel führt über die Illusion der gelobten USA in die Realität eines eigenverantwortlichen Lebens.

Alltag und Abschied

Die interessantesten Romane kommen jedoch von zwei Autoren, denen bislang größere Beachtung versagt geblieben ist. Und auch sie haben etwas gemein: José Guillermo (Memo) Anjel und Tomás González erzählen vom Kolumbien der fünfziger und sechziger Jahre, als die violencia noch längst nicht ihr heutiges, allgegenwärtiges Ausmaß erreicht hatte. Memo Anjels Roman Das meschuggene Jahr handelt von einer jüdischen Familie in Medellín, die ganz in ihren Alltagsgeschäften aufgeht. Ein leicht verrückter Vater (Anjel legt mit dieser Figur seinem eigenen, früh gestorbenen Vater einen Stein aufs Grab) verausgabt sich an merkwürdigen technischen Erfindungen wie einer Brotbackmaschine, die Mutter verhindert, dass das Chaos über die Sippe hereinbricht, und alle gemeinsam erfüllen sie sich auf ihre Weise den traditionellen Pessach-Wunsch der Juden: eine Reise nach Jerusalem. Erzählt in einem warmherzigen, geradezu arglosen Ton, fehlen in Das meschuggene Jahr alle Anklänge an die violencia, die auch damals schon eine lange, wenn auch sporadischere und begrenztere Geschichte hatte. Memo Anjel hat, als er sein Buch im Mai in Zürich vorstellte (vgl. Interview in LN 371), dies als eine ganz bewusste Entscheidung erklärt, sich nicht an einer „morbiden“ Literatur beteiligen zu wollen, die die alltagsbestimmende Angst der LeserInnen vor Gewalt dazu missbrauche, Spannung zu erzeugen. Positiv gewendet hieße das: Hier schreibt einer abseits der Erwartungen und Gewohnheiten, aber mit dem Wunsch, erzählend vor dem Vergessen zu retten, was noch nicht verloren ist.
So unverschämt freundlich Das meschuggene Jahr ausgeht, so tödlich endet Horacios Geschichte von Tomás González. Horacio stirbt, er tut das eigentlich das ganze Buch hindurch. Also alles wie gehabt: Kolumbien heißt Gewalt, Entsetzen, Tod? Nein. Tomás González erzählt die Geschichte eines Sterbens – wohl auch im bewussten Kontrast zur Gewaltliteratur seiner Kollegen – als den genau beobachteten Abschied eines Menschen vom Leben, das er heiß geliebt und liebevoll geführt hat. Horacio ist Rinderzüchter und Antiquitätenhändler in der Provinz. Mit seinen Kindern, seiner Frau, seinen Brüdern spricht, scherzt, leidet er; er lebt eigensinnig, anders, als die Ärzte ihm empfehlen, mit albernen Vorlieben und großer Aufmerksamkeit für die Details seiner Umgebung. All das wäre nicht weiter bedeutsam, wenn es nicht so ausgesprochen stimmig und klug erzählt und ganz unabhängig von jeglichem Kontext einfach eine gute Geschichte wäre, vor allem aber, wenn es sich nicht von den bekannten Bildern über Kolumbien so krass unterscheiden würde. Kann man in einem Land, in dem die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Gewalttat, einer Entführung zu werden, so hoch ist wie kaum sonst irgendwo auf der Welt, noch von einem Leben erzählen, dessen Tod mehr wert ist als eine kurze Zeitungsnotiz? Man kann, sagt González.
Interessanterweise spielt auch sein Roman in der Vergangenheit. Horacio muss 1960 noch nicht befürchten, dass sein Dorf von Paramilitärs oder Guerilleros überfallen werden könnte. Die Gewalt im Lande spielt durchaus in Horacios Geschichte hinein, durch Radiomeldungen etwa. Einmal werden ihm sogar zwei Kühe von der Weide gestohlen, die Diebesbande wird später von der Polizei erschossen. Aber das ist noch nichts Normales, sondern ein Aufsehen erregendes Ereignis, von dem Horacio Nacht für Nacht träumen wird. Wie aber würde er vierzig Jahre später auf den Vorfall reagieren?
Dass unter den erwähnten sechs Büchern kein qualitätsvoller Gegenwartsroman ist, mag man als Lücke bemängeln. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass uns nur ein kleiner Ausschnitt dessen erreicht, was im Buchland Kolumbien jährlich erscheint. Von Laura Restrepo, der Alfaguara-Preisträgerin des Jahres 2004 (für Delirio) und von Héctor Abad Faciolince sind bereits Bücher auf Deutsch erschienen und weitere zu erwarten. Andere – Pedro Badrán, Saúl Álvarez, Darío Jaramillo Agudelo – warten noch auf ihre Entdeckung. Aber die unterhaltsamen Neuerscheinungen von Jorge Franco und Santiago Gamboa selbst sprechen ebenso für eine lebendige Buchkultur wie die anspruchsvolleren Romane von Memo Anjel und Tomás González. Diese verweisen, indem sie das Gewalt-Thema zur Leerstelle machen, umso eindringlicher auf Übersehenes, Bedrohtes und Verlorenes.

Arturo Alape: Das Blut der anderen. Aus dem Spanischen von Richard Groß. Edition Köln, Köln 2003, 140 Seiten, 14,90 Euro.
Fernando Vallejo: Der Abgrund. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2004, 192 Seiten, 19,80 Euro.
Santiago Gamboa: Die Blender. Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold. Wagenbach Verlag, Berlin 2005. 320 Seiten, 20,50 Euro.
Jorge Franco: Paraíso Travel. Aus dem Spanischen von Susanna Mende. Unionsverlag. Zürich 2005, 288 Seiten, 19,90 Euro.
Memo Anjel: Das meschuggene Jahr. Aus dem Spanischen von Erich Hackl und Peter Schultze-Kraft. Rotpunktverlag. Zürich 2005. 194 Seiten, 19,50 Euro.
Tomás González: Horacios Geschichte. Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft, Gert Loschütz und Jan Weiz, Nachwort von Peter Schultze-Kraft. Edition 8. Zürich 2005, 172 Seiten, 18,80 Euro.

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