Literatur | Nummer 389 - November 2006

Mit Krimis gegen die Angst schreiben

Interview mit dem Schriftssteller Amir Valle über das schwierige Leben auf Kuba und seine Kritik am Regime

Bevor der kubanische Schriftsteller Amir Valle ins Visier der Staatsschützer geriet, war er der literarische Hoffnungsträger der Insel und ein Liebling der Kulturszene. Valle, der für seine Erzählungen, Essays, Hörspiele und Fernsehdokumentationen zahlreiche Auszeichnungen in Kuba und im Ausland erhalten hat, ist mit seinen Beschreibungen der realen Lebenssituation vieler KubanerInnen offensichtlich zu weit gegangen. In mittlerweile vier Kriminalromanen beschreibt er unverblümt die raue urbane Wirklichkeit im Paradies des tropischen Sozialismus.

Oliver Commer

Herr Valle, Grundlage Ihrer Romane sind reale Erlebnisse, aber auch Untersuchungen und Befragungen. Wo findet man in den Romanen Tatsachen, und wo verwenden Sie Fiktion?

Meine Serie von Kriminalromanen hat eine Vorgeschichte. Ich bin von Haus aus Journalist und untersuchte neun Jahre lang das Phänomen der Prostitution in Kuba. Resultat dieser Recherche war das Buch “Habana Babilonia oder Prostitution in Kuba”. Darauf baut die Serie auf. Alle Motive basieren auf realen Ereignissen, von denen in Zeitungsartikeln berichtet wurde oder die ich in Polizeiakten fand. Ich benutze diese Themen als eine Art Reflexion über die kubanische Realität. Der Kriminalroman verbindet den Leser mit dieser Reflexion, führt ihn bei der Suche nach weiteren Informationen. Ich verteile die wahren Begebenheiten überall in den Büchern, gebe ihnen so Leben. Fiktional sind nur die literarischen Figuren, die ich geschaffen habe. Aber einige von ihnen stammen direkt aus dem wirklichen Leben und sind für ihre literarische Verwendung verändert worden.

Eine Besonderheit Ihrer Krimis ist, dass sie in den verfallenen Vierteln von Havanna spielen. Ihre Prosa ist teilweise sehr nüchtern, teilweise sehr präzise und sehr vulgär. Sexualität ist ein zentrales Thema, das ausführlich beschrieben wird. Was verbindet Sie mit diesem Umfeld?

Seit ich denken kann, lebe ich in Kuba in sogenannten barrios, in einer Gegend, die man in anderen Teilen der Welt als marginale Viertel bezeichnet. Während es andernorts vielleicht möglich ist, marginale Viertel von anderen zu unterscheiden, haben sich in Kuba diese Grenzen aufgehoben. Mein Motiv ist ganz einfach das Leben dort, wo ich selbst lebe. Ganz einfach. Ich möchte, dass der Leser meiner Bücher erfährt, dass es ein Kuba gibt, das verheimlicht werden soll. Ein Kuba, das viel reichhaltiger als dasjenige ist, das die Regierung präsentiert. Es ist viel schöner als das Kuba der Touristenposter. Das ist das Kuba des barrio. Das Kuba der Menschen, die kubanisch denken und kubanisch sprechen. Das Leben in diesen barrios erzeugt in dir eine Identifikation. Wenn Du dich selbst als Schriftsteller ernst nimmst, dann musst du über die barrios schreiben, über die Sinnlichkeit der Frauen. Und du wirst von der Marginalisierung erzählen, davon, dass es an allem mangelt. Dort lernst du den Menschen in allen seinen Facetten kennen. Weil ich genau dort lebe, wo es Prostitution, Drogen und den Schwarzmarkt gibt, schreibe ich darüber. Ich möchte von den 16-jährigen Jungs erzählen, die als Kinder zusammen mit meinem Sohn im Park gespielt haben und die jetzt auf der Straße Drogen verkaufen oder sich als pingueros, als männliche Prostituierte anbieten. Weil ich das alles täglich sehe.

Was bedeutet es, unter diesen Umständen Schriftsteller in Kuba zu sein?

Heute ein Künstler in Kuba zu sein bedeutet vor allem, eine ganz bestimmte Einstellung zu vertreten, einen Kompromiss einzugehen und abhängig von bestimmten politischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten zu sein. In anderen Ländern ist es vielleicht möglich, trotzdem am Rande der Gesellschaft eine Nische zu finden. In Kuba ist das nicht möglich. Entweder man verhält sich entsprechend der vorgegebenen sozialen und künstlerischen Vorgaben – oder man versucht seine Unabhängigkeit zu bewahren, so wie ich. Diese Unabhängigkeit hat aber Folgen. Man erhält keinerlei Unterstützung von den etablierten Institutionen, man wird verschwiegen und ignoriert. Um die Frage ganz einfach zu beantworten: Heute ein Künstler in Kuba zu sein, bedeutet eine Übereinkunft abzuschließen. Entweder mit Dir selbst, als Person, als Künstler, als unabhängiges menschliches Wesen oder mit einer Gesellschaftsform, die sich leider immer weiter in Richtung Totalitarismus bewegt.

Wie lässt sich das heutige kulturelle Panorama in Kuba beschreiben?

Es gibt auf Kuba eine der beeindruckendsten kulturellen und künstlerischen Bewegungen Lateinamerikas. Wenn Kritiker über Kunst, Musik, Kino oder die grundsätzliche kulturelle Entwicklung des Kontinents sprechen, nennen sie immer Argentinien, Mexiko, Kolumbien und Kuba. Das sind die vier wichtigsten Länder. Im Falle Kubas hängt das eindeutig mit der Revolution zusammen. Kulturelle Einrichtungen wurden eröffnet und Kultur durch Bildung in die Bevölkerung getragen. Ganz eindeutig förderte das auch die Künstler. Aber wenn Du an diesem etablierten Umfeld teilhaben willst, wenn Du es für Dich nutzen willst, damit Du veröffentlichen oder auch im Ausland Bekanntheit erlangen kannst, dann geht das nur, wenn Du dich dem politischen Diktat unterordnest. Und das hat eine Parzellierung der kubanischen Kultur hervorgerufen. Leider sind wir nur sehr wenige, die sich für ein unabhängiges Leben entschieden haben, ohne sich in irgendeiner Form politisch festzulegen. Und das können wir auch nur, weil wir von außerhalb Unterstützung erfahren.

Und die Menschen aus den barrios, die in Ihren Büchern eine so wichtige Rolle spielen – auf welche Weise spielt Politik für diese Menschen eine Rolle?

Die Kubaner sind ein sehr gebildetes Volk. Es macht mich sehr stolz, das zu sagen. In den letzten Jahren haben die Lebensbedingungen in Kuba den Leuten aber etwas aufgezwungen, was wir in Kuba la ley de resolver nennen, die Regeln des absoluten Überlebens. Es gibt nirgendwo etwas, man muss sich alles auf dem Schwarzmarkt besorgen, Medikamente zum Beispiel. Oder Arbeit: Du musst Dir welche erfinden, um Essen kaufen zu können. Die zugeteilten monatlichen Rationen reichen gerade einmal für fünf oder sechs Tage. Deshalb musst Du Dich ausschließlich um Dein Überleben kümmern. Und aus diesem Grund kann der Kubaner sich nicht um Politik kümmern. Außerdem erlaubt der Staat dem Kubaner nicht, politisch aktiv zu sein. Man muss immer wieder sagen, dass die Gesellschaft Kubas denjenigen gleicht, die im ehemaligen Ostblock vorherrschend waren. Es gibt nur eine Partei, und an der Spitze von Partei und Regierung stehen immer nur dieselben Personen, die keinen Raum für einen offenen politischen Dialog lassen.

Obwohl viele Kubaner eine sehr realistische Einschätzung ihrer Lebenssituation haben, scheint noch nicht der Moment gekommen zu sein, dass sich eine breite soziale Bewegung formiert, um diese Verhältnisse zu verändern.

Es geschieht bereits, allerdings sehr langsam. Man muss verstehen, dass das politische System Kubas auf der Basis von Angst funktioniert. Es gibt eine sehr ausgeprägte Struktur der Angst. Um sich in diesem Land als soziales Wesen politisch zu engagieren, muss man erst die Angst überwinden. Und das kostet sehr viel Anstrengung. Es gab beispielsweise das Projekt Varela, bei dem eine Verfassungsreform für mehr Meinungsfreiheit und mehr politische Rechte durchgesetzt werden sollte. Laut aktueller kubanischer Verfassung ist eine Reform bei der Übergabe von 10.000 Unterschriften möglich. Insgesamt wurden mehr als 20.000 Unterschriften gesammelt, ohne dass es eine Änderung gab. Es gibt zwar eine soziale Bewegung, die sich Schritt für Schritt vergrößert. Der Staat aber gibt sich demgegenüber absolut zugeknöpft und verweigert sogar Rechte, die in der Verfassung verankert sind.

Wie würdest Du das heutige Kuba in einem einzigen Satz beschreiben?

Es ist ein gleichzeitig furchtbar schönes und furchtbar trauriges Kuba.

Von Amir Valles Kriminalromanen sind bisher auf deutsch erschienen:

Die Türen der Nacht
Edition Köln, 2005,
203 Seiten, 14,90 Euro

Wenn Christo Dich entkleidet
Edition Köln, 2006, 149 SEiten, 14,90 Euro

Weitere Informationen: www.amirvalle.com

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